Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Härte nicht nur die Abweichung von dem orthodoxen Dogma, sondern selbst von
der äußern Kirchenform bekämpft; denn wie sich auch jene oder diese gestalte,
droht sie immer in ihrer Consequenz mit einer Opposition gegen den socialen und
demnächst gegen den politischen Bestand des autokratisch-absolutistischen Staates.
Die nach Autonomie verlangende Hyperorthodoxie, wie der die Autorität verleug¬
nende Hyperrationalismus reiche" sich ja auf dem socialistischen Felde die Hand.
Die russische, auf die staatlich anbefohlene Rechtgläubigkeit basirte Politik mußte
aber in den Consequenzen dieses Kampfes auch noch weiter gehen, sie mußte nach
Außen hin Ursache mit Wirkung, Entartung mit Reform, Atheisterei mit Glau-
bensforschnng, Regelung der gesellschaftlichen Mißstände mit Communismus zu¬
sammenmischen, sie mußte deu Bannerspruch führen: Die Revolution ist vor
Allem antichristlich.




Bilder aus dem Kaukasus.
1. Ein Pferd und zwei Jungfrauen.

Mein Gastfreund in Osurgethi hatte zwei Töchter, wovon die ältere
Nino, und die zweite, wenn ich nicht irre, Thamar hieß. Beide waren, ob¬
wohl in Gehalt und Gestalt wesentlich verschieden, ein paar so anmuthig gebaute
Wesen, daß sie an Schönheit wetteifern konnten mit den herrlichsten Töchtern
der Adighö.

Nino, eine hochgewachsene, schlanke Cypressengcstalt, sein von Händen und
Füßen, klein von Mund und Ohren, und mit einem dunklen Haarwuchs ge¬
schmückt, üppig und lang genug, um ein Dutzend unerfahrener Männer aus Ein¬
mal darin zu verstricken. Es war ein Weib, geboren zum Herrschen. In den
großen, schwarzen Augen, den seinen eng anliegenden Lippen und in der leise ge¬
bogenen, kühn gezeichneten Nase lag ein entschieden männlicher Ausdruck. In
Weibern dieser Art spielt die Liebe immer nur eine untergeordnete Rolle.

Thamar, die jüngere Schwester, hatte nicht so bestimmt schöne Formen wie
Nino; sie war kleiner, voller von Gestalt und weniger regelmäßig in ihren Zügen,
aber unendlich liebreizender und weiblicher in ihrem ganzen Wesen. Für den et¬
was zu großen Mund entschädigten die rosigen Lippen und die kerngesunden,
schneeweißen Zähne mit ihrem weichen Schmelz.

Die Farbe des Gesichts, des vollen Halses und Nackens war von durchsich¬
tiger Reinheit. Sie hatte, was man so selten vereint findet, himmelblaue Augen
mit langen, dunkelseidenen Wimpern, und ein glänzendes, schwarzes Haar.


Härte nicht nur die Abweichung von dem orthodoxen Dogma, sondern selbst von
der äußern Kirchenform bekämpft; denn wie sich auch jene oder diese gestalte,
droht sie immer in ihrer Consequenz mit einer Opposition gegen den socialen und
demnächst gegen den politischen Bestand des autokratisch-absolutistischen Staates.
Die nach Autonomie verlangende Hyperorthodoxie, wie der die Autorität verleug¬
nende Hyperrationalismus reiche» sich ja auf dem socialistischen Felde die Hand.
Die russische, auf die staatlich anbefohlene Rechtgläubigkeit basirte Politik mußte
aber in den Consequenzen dieses Kampfes auch noch weiter gehen, sie mußte nach
Außen hin Ursache mit Wirkung, Entartung mit Reform, Atheisterei mit Glau-
bensforschnng, Regelung der gesellschaftlichen Mißstände mit Communismus zu¬
sammenmischen, sie mußte deu Bannerspruch führen: Die Revolution ist vor
Allem antichristlich.




Bilder aus dem Kaukasus.
1. Ein Pferd und zwei Jungfrauen.

Mein Gastfreund in Osurgethi hatte zwei Töchter, wovon die ältere
Nino, und die zweite, wenn ich nicht irre, Thamar hieß. Beide waren, ob¬
wohl in Gehalt und Gestalt wesentlich verschieden, ein paar so anmuthig gebaute
Wesen, daß sie an Schönheit wetteifern konnten mit den herrlichsten Töchtern
der Adighö.

Nino, eine hochgewachsene, schlanke Cypressengcstalt, sein von Händen und
Füßen, klein von Mund und Ohren, und mit einem dunklen Haarwuchs ge¬
schmückt, üppig und lang genug, um ein Dutzend unerfahrener Männer aus Ein¬
mal darin zu verstricken. Es war ein Weib, geboren zum Herrschen. In den
großen, schwarzen Augen, den seinen eng anliegenden Lippen und in der leise ge¬
bogenen, kühn gezeichneten Nase lag ein entschieden männlicher Ausdruck. In
Weibern dieser Art spielt die Liebe immer nur eine untergeordnete Rolle.

Thamar, die jüngere Schwester, hatte nicht so bestimmt schöne Formen wie
Nino; sie war kleiner, voller von Gestalt und weniger regelmäßig in ihren Zügen,
aber unendlich liebreizender und weiblicher in ihrem ganzen Wesen. Für den et¬
was zu großen Mund entschädigten die rosigen Lippen und die kerngesunden,
schneeweißen Zähne mit ihrem weichen Schmelz.

Die Farbe des Gesichts, des vollen Halses und Nackens war von durchsich¬
tiger Reinheit. Sie hatte, was man so selten vereint findet, himmelblaue Augen
mit langen, dunkelseidenen Wimpern, und ein glänzendes, schwarzes Haar.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0258" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85841"/>
            <p xml:id="ID_835" prev="#ID_834"> Härte nicht nur die Abweichung von dem orthodoxen Dogma, sondern selbst von<lb/>
der äußern Kirchenform bekämpft; denn wie sich auch jene oder diese gestalte,<lb/>
droht sie immer in ihrer Consequenz mit einer Opposition gegen den socialen und<lb/>
demnächst gegen den politischen Bestand des autokratisch-absolutistischen Staates.<lb/>
Die nach Autonomie verlangende Hyperorthodoxie, wie der die Autorität verleug¬<lb/>
nende Hyperrationalismus reiche» sich ja auf dem socialistischen Felde die Hand.<lb/>
Die russische, auf die staatlich anbefohlene Rechtgläubigkeit basirte Politik mußte<lb/>
aber in den Consequenzen dieses Kampfes auch noch weiter gehen, sie mußte nach<lb/>
Außen hin Ursache mit Wirkung, Entartung mit Reform, Atheisterei mit Glau-<lb/>
bensforschnng, Regelung der gesellschaftlichen Mißstände mit Communismus zu¬<lb/>
sammenmischen, sie mußte deu Bannerspruch führen: Die Revolution ist vor<lb/>
Allem antichristlich.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Bilder aus dem Kaukasus.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> 1.  Ein Pferd und zwei Jungfrauen.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_836"> Mein Gastfreund in Osurgethi hatte zwei Töchter, wovon die ältere<lb/>
Nino, und die zweite, wenn ich nicht irre, Thamar hieß. Beide waren, ob¬<lb/>
wohl in Gehalt und Gestalt wesentlich verschieden, ein paar so anmuthig gebaute<lb/>
Wesen, daß sie an Schönheit wetteifern konnten mit den herrlichsten Töchtern<lb/>
der Adighö.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_837"> Nino, eine hochgewachsene, schlanke Cypressengcstalt, sein von Händen und<lb/>
Füßen, klein von Mund und Ohren, und mit einem dunklen Haarwuchs ge¬<lb/>
schmückt, üppig und lang genug, um ein Dutzend unerfahrener Männer aus Ein¬<lb/>
mal darin zu verstricken. Es war ein Weib, geboren zum Herrschen. In den<lb/>
großen, schwarzen Augen, den seinen eng anliegenden Lippen und in der leise ge¬<lb/>
bogenen, kühn gezeichneten Nase lag ein entschieden männlicher Ausdruck. In<lb/>
Weibern dieser Art spielt die Liebe immer nur eine untergeordnete Rolle.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_838"> Thamar, die jüngere Schwester, hatte nicht so bestimmt schöne Formen wie<lb/>
Nino; sie war kleiner, voller von Gestalt und weniger regelmäßig in ihren Zügen,<lb/>
aber unendlich liebreizender und weiblicher in ihrem ganzen Wesen. Für den et¬<lb/>
was zu großen Mund entschädigten die rosigen Lippen und die kerngesunden,<lb/>
schneeweißen Zähne mit ihrem weichen Schmelz.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_839"> Die Farbe des Gesichts, des vollen Halses und Nackens war von durchsich¬<lb/>
tiger Reinheit. Sie hatte, was man so selten vereint findet, himmelblaue Augen<lb/>
mit langen, dunkelseidenen Wimpern, und ein glänzendes, schwarzes Haar.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0258] Härte nicht nur die Abweichung von dem orthodoxen Dogma, sondern selbst von der äußern Kirchenform bekämpft; denn wie sich auch jene oder diese gestalte, droht sie immer in ihrer Consequenz mit einer Opposition gegen den socialen und demnächst gegen den politischen Bestand des autokratisch-absolutistischen Staates. Die nach Autonomie verlangende Hyperorthodoxie, wie der die Autorität verleug¬ nende Hyperrationalismus reiche» sich ja auf dem socialistischen Felde die Hand. Die russische, auf die staatlich anbefohlene Rechtgläubigkeit basirte Politik mußte aber in den Consequenzen dieses Kampfes auch noch weiter gehen, sie mußte nach Außen hin Ursache mit Wirkung, Entartung mit Reform, Atheisterei mit Glau- bensforschnng, Regelung der gesellschaftlichen Mißstände mit Communismus zu¬ sammenmischen, sie mußte deu Bannerspruch führen: Die Revolution ist vor Allem antichristlich. Bilder aus dem Kaukasus. 1. Ein Pferd und zwei Jungfrauen. Mein Gastfreund in Osurgethi hatte zwei Töchter, wovon die ältere Nino, und die zweite, wenn ich nicht irre, Thamar hieß. Beide waren, ob¬ wohl in Gehalt und Gestalt wesentlich verschieden, ein paar so anmuthig gebaute Wesen, daß sie an Schönheit wetteifern konnten mit den herrlichsten Töchtern der Adighö. Nino, eine hochgewachsene, schlanke Cypressengcstalt, sein von Händen und Füßen, klein von Mund und Ohren, und mit einem dunklen Haarwuchs ge¬ schmückt, üppig und lang genug, um ein Dutzend unerfahrener Männer aus Ein¬ mal darin zu verstricken. Es war ein Weib, geboren zum Herrschen. In den großen, schwarzen Augen, den seinen eng anliegenden Lippen und in der leise ge¬ bogenen, kühn gezeichneten Nase lag ein entschieden männlicher Ausdruck. In Weibern dieser Art spielt die Liebe immer nur eine untergeordnete Rolle. Thamar, die jüngere Schwester, hatte nicht so bestimmt schöne Formen wie Nino; sie war kleiner, voller von Gestalt und weniger regelmäßig in ihren Zügen, aber unendlich liebreizender und weiblicher in ihrem ganzen Wesen. Für den et¬ was zu großen Mund entschädigten die rosigen Lippen und die kerngesunden, schneeweißen Zähne mit ihrem weichen Schmelz. Die Farbe des Gesichts, des vollen Halses und Nackens war von durchsich¬ tiger Reinheit. Sie hatte, was man so selten vereint findet, himmelblaue Augen mit langen, dunkelseidenen Wimpern, und ein glänzendes, schwarzes Haar.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/258
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/258>, abgerufen am 07.05.2024.