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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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wickelungsfähigem Leben zu erwecken, bildeten die Duchaborzen keine festgeschlossene
Kirchengesellschast, sondern gruppirten sich von jeher um den systematischen Aus¬
bau dieser puritanischen Grundidee durch verschiedene theologische oder philoso¬
phische Systeme. Nach den Individualitäten, welche sich diesen anschlossen oder
sie weiter ausbildeten, erlangten dieselben bald eine ungemessenere, bald eine be¬
schränktere Elasticität, vertreten jedoch überall das reformatorische Element, das
Element der Verflüchtigung der Kirchenformen. Konnte nun die orthodoxe Staats¬
kirche bisher das Starowerzenthnm nicht überwältigen, weil sie jeder populär¬
theologischen Bildung entbehrt, so wurde ihr uoch weniger möglich, das Ducha-
borzcnthnm zur Orthodoxie zurückzuführen. Sie hatte kein äußerliches Moment,
um dies mit Zwang zu thun, weil die Dnchaborzen, wo sie sich nicht in der
Mehrzahl befinden, grundsätzlich die Ceremonien der Staatskirche befolgen; noch
weniger verstand sie aber, dieser proteusartig wechselnden Sectirerei von rein tires--
lieben aus das sociale Gebiet zu folge", wohin dieselbe doch nach und nach
ihren Schwerpunkt verlegt hat. Hier nun ist gerade der Punkt, wo sich die
Duchaborzen mit deu Starowerzcu begegnen. Während diese letztem die abso¬
lute Herrschaft des Czaren und die Leibeigenschaft als fremde Neuerungen, als
Augriffe auf die echte Rechtgläubigkeit, bekämpfen, ist eine dnrch alle Abzweigungen,
der Dnchaborzen gehende Grundlehre die vou der Gleichheit Aller durch die
Sündhaftigkeit Aller. "Es gibt keinen Herrn und keinen Knecht; Du kannst
Dich der Hilfe des Andern bedienen, aber deshalb bleibt er doch Dein Bruder
und Dir gleich, wie Du dem Mächtigsten gleich und Bruder bist," -- so lauten
ihre Lehren in dieser Hinsicht, so schüttern sie am Grundbegriffe des russischen
Staates. Diese sociale Wendung ist natürlich. Gerade russische Verhältnisse mußten
diese Seite der reformatorischen Lehre am wichtigsten erscheinen lassen. In ein¬
zelnen Gemeinden ihrer Bekenner führte deren Ausbildung sogar bereits zur Ent¬
wicklung der Arbeits- und Gütergemeinschaft; gerade wie bei einzelnen Abzwei¬
gungen der Starowerzen. Da nun die Duchaborzen ihre Hauptsttze in den
uenrussischeu Provinzen haben, so war auch geographisch eine Annäherung an die
äußersten Abzweigungen der Starowerzen erleichtert. Und in der That ist es
hier oftmals äußerst schwierig, zu entscheiden, ob die eine oder audere Gemeinde
mit ihrem besondern Scctennamen der einen oder andern dissenterischen Richtung
der russischen Kirche angehört.

Die eigentlich theologische Ketzerei dieser Ncbenkirchcu kommt in der That
anch der russischen Politik wenig in Betracht; die hauptsächlich wichtige Frage
bleibt die sociale, die damit eng zusammenhängende politische. Diese Besorgniß
durfte indessen die Staatsklugheit nirgends hervortreten lassen; sie mußte das
Moment der Orthodoxie vordrängen, um auf diesem Felde die social-pMische
Bewegung zu bekämpfen. Es liegt deshalb vollkommen im russischen Princip be¬
gründet, wenn die orthodoxe Kirche im Innern des Reichs mit äußerster Straf-


Grenzvoten. III. 1850. 32

wickelungsfähigem Leben zu erwecken, bildeten die Duchaborzen keine festgeschlossene
Kirchengesellschast, sondern gruppirten sich von jeher um den systematischen Aus¬
bau dieser puritanischen Grundidee durch verschiedene theologische oder philoso¬
phische Systeme. Nach den Individualitäten, welche sich diesen anschlossen oder
sie weiter ausbildeten, erlangten dieselben bald eine ungemessenere, bald eine be¬
schränktere Elasticität, vertreten jedoch überall das reformatorische Element, das
Element der Verflüchtigung der Kirchenformen. Konnte nun die orthodoxe Staats¬
kirche bisher das Starowerzenthnm nicht überwältigen, weil sie jeder populär¬
theologischen Bildung entbehrt, so wurde ihr uoch weniger möglich, das Ducha-
borzcnthnm zur Orthodoxie zurückzuführen. Sie hatte kein äußerliches Moment,
um dies mit Zwang zu thun, weil die Dnchaborzen, wo sie sich nicht in der
Mehrzahl befinden, grundsätzlich die Ceremonien der Staatskirche befolgen; noch
weniger verstand sie aber, dieser proteusartig wechselnden Sectirerei von rein tires--
lieben aus das sociale Gebiet zu folge», wohin dieselbe doch nach und nach
ihren Schwerpunkt verlegt hat. Hier nun ist gerade der Punkt, wo sich die
Duchaborzen mit deu Starowerzcu begegnen. Während diese letztem die abso¬
lute Herrschaft des Czaren und die Leibeigenschaft als fremde Neuerungen, als
Augriffe auf die echte Rechtgläubigkeit, bekämpfen, ist eine dnrch alle Abzweigungen,
der Dnchaborzen gehende Grundlehre die vou der Gleichheit Aller durch die
Sündhaftigkeit Aller. „Es gibt keinen Herrn und keinen Knecht; Du kannst
Dich der Hilfe des Andern bedienen, aber deshalb bleibt er doch Dein Bruder
und Dir gleich, wie Du dem Mächtigsten gleich und Bruder bist," — so lauten
ihre Lehren in dieser Hinsicht, so schüttern sie am Grundbegriffe des russischen
Staates. Diese sociale Wendung ist natürlich. Gerade russische Verhältnisse mußten
diese Seite der reformatorischen Lehre am wichtigsten erscheinen lassen. In ein¬
zelnen Gemeinden ihrer Bekenner führte deren Ausbildung sogar bereits zur Ent¬
wicklung der Arbeits- und Gütergemeinschaft; gerade wie bei einzelnen Abzwei¬
gungen der Starowerzen. Da nun die Duchaborzen ihre Hauptsttze in den
uenrussischeu Provinzen haben, so war auch geographisch eine Annäherung an die
äußersten Abzweigungen der Starowerzen erleichtert. Und in der That ist es
hier oftmals äußerst schwierig, zu entscheiden, ob die eine oder audere Gemeinde
mit ihrem besondern Scctennamen der einen oder andern dissenterischen Richtung
der russischen Kirche angehört.

Die eigentlich theologische Ketzerei dieser Ncbenkirchcu kommt in der That
anch der russischen Politik wenig in Betracht; die hauptsächlich wichtige Frage
bleibt die sociale, die damit eng zusammenhängende politische. Diese Besorgniß
durfte indessen die Staatsklugheit nirgends hervortreten lassen; sie mußte das
Moment der Orthodoxie vordrängen, um auf diesem Felde die social-pMische
Bewegung zu bekämpfen. Es liegt deshalb vollkommen im russischen Princip be¬
gründet, wenn die orthodoxe Kirche im Innern des Reichs mit äußerster Straf-


Grenzvoten. III. 1850. 32
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/257>, abgerufen am 19.05.2024.