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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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fremdet haben. Es ist nicht anzunehmen, daß wir in ihm den Staatsmann der
Zukunft sehen; wir können aber mit dem wohlthuenden Eindruck, den seine ehren-
werthe Haltung in den letzten Tagen gemacht hat, von ihm scheiden.




Dramaturgische Miscellen.
II.

Adrienne, Schauspiel von Otto Prechtler. -- Wir wollen mit der Wahl
dieses Schauspiels nicht sagen, daß es eine bedeutende Stellung in der Ent¬
wicklung unsres Theaters einnähme; wir ziehen es hervor, weil sich einzelne Be¬
trachtungen, die wir über das historische Drama zu machen haben, bequem daran
knüpfen lassen.

Der Stoff hat einen novellistischen Zuschnitt. Ein junges hübsches Mädchen
ist zur Moucharde erzogen, sie soll die Feinde ihrer Regierung in ihr Netz ziehen
und ihre Geheimnisse auskundschaften. In einem dieser Fälle begegnet es ihr,
die bisher in ihrem eitlen Treiben die Stimme des Herzens noch nicht vernommen
hat, daß sie von einem tiefen Gefühl ergriffen wird; dieses Gefühl klärt sie über
ihr bisheriges Leben ans, und da sie dem Mann ihrer Liebe nicht wohl ihre Ver¬
gangenheit mit in den Kauf bringen kann, so bleibt ihr nichts übrig, als auf
eine schickliche Weise umzukommen. Sie stirbt für ihn.

Der Stoff ist sowohl für die Novelle als für das Drama geeignet. Balzac
hat ihn in seinem Roman: I^es Cdouan8, Prosper Mörimve in einem seiner
bessern Stücke: l.c-s LsrMAnols on variLMkreK benutzt. In beiden, wie in unserer
Adrienne, ist ein historischer Hintergrund hineingewebt. In den beiden französischen
Stücken ist es Napoleon, in dem deutschen Philipp II. von Spanien, dessen Cha¬
rakter die Localfarbe hergibt.

Es ist überhaupt ein falsches Vorurtheil, von unsern Märzkritikern verbreitet,
daß ein novellistischer Stoff der dramatischen Behandlung unwürdig sei. Inter¬
essante Abenteuer, wozu die Novelle auffordert, bringen auch, wenn sie zu diesem
Zweck arrangirt werden, interessante Conflicte des Gefühls und der Leidenschaft
mit sich, und erwerben dadurch Bürgerrecht auf dem Theater. Auch das novelli¬
stische und das historische Moment streiten nicht unbedingt mit einander. Ein
Bruch in den Ideen einer Zeit wird sich auch in den Herzen der Einzelnen kund
-geben, ja er muß, um eine allgemein menschliche Form anzunehmen, individuell
dargestellt werden. Wenn unsere Kritik fordert, daß die Leidenschaft sich auf die
Träger der geschichtlichen Idee beziehen soll, so ist damit für das Wesen der
Sache noch nichts ausgemacht. Denn wird der Held in ein Privatverhältniß
verwickelt, so ist sein Heidenthum dann weiter nichts, als eine äußerliche Folie


fremdet haben. Es ist nicht anzunehmen, daß wir in ihm den Staatsmann der
Zukunft sehen; wir können aber mit dem wohlthuenden Eindruck, den seine ehren-
werthe Haltung in den letzten Tagen gemacht hat, von ihm scheiden.




Dramaturgische Miscellen.
II.

Adrienne, Schauspiel von Otto Prechtler. — Wir wollen mit der Wahl
dieses Schauspiels nicht sagen, daß es eine bedeutende Stellung in der Ent¬
wicklung unsres Theaters einnähme; wir ziehen es hervor, weil sich einzelne Be¬
trachtungen, die wir über das historische Drama zu machen haben, bequem daran
knüpfen lassen.

Der Stoff hat einen novellistischen Zuschnitt. Ein junges hübsches Mädchen
ist zur Moucharde erzogen, sie soll die Feinde ihrer Regierung in ihr Netz ziehen
und ihre Geheimnisse auskundschaften. In einem dieser Fälle begegnet es ihr,
die bisher in ihrem eitlen Treiben die Stimme des Herzens noch nicht vernommen
hat, daß sie von einem tiefen Gefühl ergriffen wird; dieses Gefühl klärt sie über
ihr bisheriges Leben ans, und da sie dem Mann ihrer Liebe nicht wohl ihre Ver¬
gangenheit mit in den Kauf bringen kann, so bleibt ihr nichts übrig, als auf
eine schickliche Weise umzukommen. Sie stirbt für ihn.

Der Stoff ist sowohl für die Novelle als für das Drama geeignet. Balzac
hat ihn in seinem Roman: I^es Cdouan8, Prosper Mörimve in einem seiner
bessern Stücke: l.c-s LsrMAnols on variLMkreK benutzt. In beiden, wie in unserer
Adrienne, ist ein historischer Hintergrund hineingewebt. In den beiden französischen
Stücken ist es Napoleon, in dem deutschen Philipp II. von Spanien, dessen Cha¬
rakter die Localfarbe hergibt.

Es ist überhaupt ein falsches Vorurtheil, von unsern Märzkritikern verbreitet,
daß ein novellistischer Stoff der dramatischen Behandlung unwürdig sei. Inter¬
essante Abenteuer, wozu die Novelle auffordert, bringen auch, wenn sie zu diesem
Zweck arrangirt werden, interessante Conflicte des Gefühls und der Leidenschaft
mit sich, und erwerben dadurch Bürgerrecht auf dem Theater. Auch das novelli¬
stische und das historische Moment streiten nicht unbedingt mit einander. Ein
Bruch in den Ideen einer Zeit wird sich auch in den Herzen der Einzelnen kund
-geben, ja er muß, um eine allgemein menschliche Form anzunehmen, individuell
dargestellt werden. Wenn unsere Kritik fordert, daß die Leidenschaft sich auf die
Träger der geschichtlichen Idee beziehen soll, so ist damit für das Wesen der
Sache noch nichts ausgemacht. Denn wird der Held in ein Privatverhältniß
verwickelt, so ist sein Heidenthum dann weiter nichts, als eine äußerliche Folie


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[0511] fremdet haben. Es ist nicht anzunehmen, daß wir in ihm den Staatsmann der Zukunft sehen; wir können aber mit dem wohlthuenden Eindruck, den seine ehren- werthe Haltung in den letzten Tagen gemacht hat, von ihm scheiden. Dramaturgische Miscellen. II. Adrienne, Schauspiel von Otto Prechtler. — Wir wollen mit der Wahl dieses Schauspiels nicht sagen, daß es eine bedeutende Stellung in der Ent¬ wicklung unsres Theaters einnähme; wir ziehen es hervor, weil sich einzelne Be¬ trachtungen, die wir über das historische Drama zu machen haben, bequem daran knüpfen lassen. Der Stoff hat einen novellistischen Zuschnitt. Ein junges hübsches Mädchen ist zur Moucharde erzogen, sie soll die Feinde ihrer Regierung in ihr Netz ziehen und ihre Geheimnisse auskundschaften. In einem dieser Fälle begegnet es ihr, die bisher in ihrem eitlen Treiben die Stimme des Herzens noch nicht vernommen hat, daß sie von einem tiefen Gefühl ergriffen wird; dieses Gefühl klärt sie über ihr bisheriges Leben ans, und da sie dem Mann ihrer Liebe nicht wohl ihre Ver¬ gangenheit mit in den Kauf bringen kann, so bleibt ihr nichts übrig, als auf eine schickliche Weise umzukommen. Sie stirbt für ihn. Der Stoff ist sowohl für die Novelle als für das Drama geeignet. Balzac hat ihn in seinem Roman: I^es Cdouan8, Prosper Mörimve in einem seiner bessern Stücke: l.c-s LsrMAnols on variLMkreK benutzt. In beiden, wie in unserer Adrienne, ist ein historischer Hintergrund hineingewebt. In den beiden französischen Stücken ist es Napoleon, in dem deutschen Philipp II. von Spanien, dessen Cha¬ rakter die Localfarbe hergibt. Es ist überhaupt ein falsches Vorurtheil, von unsern Märzkritikern verbreitet, daß ein novellistischer Stoff der dramatischen Behandlung unwürdig sei. Inter¬ essante Abenteuer, wozu die Novelle auffordert, bringen auch, wenn sie zu diesem Zweck arrangirt werden, interessante Conflicte des Gefühls und der Leidenschaft mit sich, und erwerben dadurch Bürgerrecht auf dem Theater. Auch das novelli¬ stische und das historische Moment streiten nicht unbedingt mit einander. Ein Bruch in den Ideen einer Zeit wird sich auch in den Herzen der Einzelnen kund -geben, ja er muß, um eine allgemein menschliche Form anzunehmen, individuell dargestellt werden. Wenn unsere Kritik fordert, daß die Leidenschaft sich auf die Träger der geschichtlichen Idee beziehen soll, so ist damit für das Wesen der Sache noch nichts ausgemacht. Denn wird der Held in ein Privatverhältniß verwickelt, so ist sein Heidenthum dann weiter nichts, als eine äußerliche Folie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/511>, abgerufen am 07.05.2024.