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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Studien zur Geschichte der französischen Romantik.
Neuchristliche Poesie.,



Unter sämmtlichen Notabilitäten des neueren Frankreich ist Chateaubriand
so ziemlich die einzige, welche sämmtliche Parteien zu gleicher Verehrung ver¬
einigt. Vor diesem Namen streckt die Kritik ihre Waffen, Romantiker und Klassi¬
ker finden sich auf neutralen Boden. Selbst aus der älteren Literatur findet sich
kein Name von so allgemeiner Anerkennung.' Von Racine z. B. wird zwar jede
Literaturgeschichte berichten, er sei ein großer Dichter gewesen, denn der Franzose
ist zu eitel, um sich den Ruhm seiner Vergangenheit verkümmern zu lassen, und
der leidenschaftlichste Republikaner würde sich in seinem Patriotismus verletzt füh¬
len, wenn man die Große Ludwigs XIV. zu bezweifeln wagte; aber mit jener
unbedingten Anerkennung Racine's wird nur der Klassiker schließen, der Romantiker
wird, wenn auch noch so bescheiden, immer hinzusetzen: in:us e'ehr perruque.
Chateaubriand dagegen ist der große Mann ohne weitere Bemerkung.

Für uns Deutsche hat diese Verehrung etwas Unbegreifliches. Der Inhalt
seiner Poesie steht mit der öffentlichen Meinung, auch in Frankreich, in directem
Widerspruch, und in seiner Form finden wir eine Frivolität und Oberflächlichkeit,
wie sie selbst bei Franzosen selten ist. In einem frühern Aufsatz (Grenzboten 1848,
Heft 30.) habe ich Chateaubriand als Totalität zu motiviren versucht. Ich be¬
schränke mich diesmal auf eine bestimmte Periode seiner Thätigkeit, die sich etwa auf
das erste Jahrzehend unsers Jahrhunderts zurückführt, und auf eine bestimmte
Seite derselben, den Versuch einer Wiederherstellung des Christenthums.

Die Werte, die dahin gehören, zerfallen in zwei Reihen; sie beziehn sich
nämlich entweder auf seine Wanderungen in Nordamerika oder auf seiue Pilger¬
schaft uach Jerusalem. In die erste Reihe gehören die beiden kleinen Erzählun¬
gen Atala und Neue, das prosaische Heldengedicht los Ratelie? und die
Vo^axe en .^merique; in die zweite das ^einer-tire, le äeinier 6v8
^bencei-tFö"; das Epos: lesNart^rs <>n l<z triomplio (1 v 1a reli^ion
dnretienue, und aus der spätern Zeit: 1-t vio ac liance, die IZtuävs
nistoriques, und die Übersetzung des verlorenen Paradieses mit der dazu ge¬
hörigen Einleitung: Lssai sur 1a literature anAl-life et considerirtions
zur le Konie des Komme", des temps et lies revolutions. In dem Keule ein
cnristianisme finden beide Reihen ihren Knotenpunkt. Mit dem letztern be¬
ginne ich.

Der "Geist des Christenthums" erschien in London 1802 , in einer
Zeit, als Napoleon durch die Restauration der Kirche dem Staat der Revolution


Studien zur Geschichte der französischen Romantik.
Neuchristliche Poesie.,



Unter sämmtlichen Notabilitäten des neueren Frankreich ist Chateaubriand
so ziemlich die einzige, welche sämmtliche Parteien zu gleicher Verehrung ver¬
einigt. Vor diesem Namen streckt die Kritik ihre Waffen, Romantiker und Klassi¬
ker finden sich auf neutralen Boden. Selbst aus der älteren Literatur findet sich
kein Name von so allgemeiner Anerkennung.' Von Racine z. B. wird zwar jede
Literaturgeschichte berichten, er sei ein großer Dichter gewesen, denn der Franzose
ist zu eitel, um sich den Ruhm seiner Vergangenheit verkümmern zu lassen, und
der leidenschaftlichste Republikaner würde sich in seinem Patriotismus verletzt füh¬
len, wenn man die Große Ludwigs XIV. zu bezweifeln wagte; aber mit jener
unbedingten Anerkennung Racine's wird nur der Klassiker schließen, der Romantiker
wird, wenn auch noch so bescheiden, immer hinzusetzen: in:us e'ehr perruque.
Chateaubriand dagegen ist der große Mann ohne weitere Bemerkung.

Für uns Deutsche hat diese Verehrung etwas Unbegreifliches. Der Inhalt
seiner Poesie steht mit der öffentlichen Meinung, auch in Frankreich, in directem
Widerspruch, und in seiner Form finden wir eine Frivolität und Oberflächlichkeit,
wie sie selbst bei Franzosen selten ist. In einem frühern Aufsatz (Grenzboten 1848,
Heft 30.) habe ich Chateaubriand als Totalität zu motiviren versucht. Ich be¬
schränke mich diesmal auf eine bestimmte Periode seiner Thätigkeit, die sich etwa auf
das erste Jahrzehend unsers Jahrhunderts zurückführt, und auf eine bestimmte
Seite derselben, den Versuch einer Wiederherstellung des Christenthums.

Die Werte, die dahin gehören, zerfallen in zwei Reihen; sie beziehn sich
nämlich entweder auf seine Wanderungen in Nordamerika oder auf seiue Pilger¬
schaft uach Jerusalem. In die erste Reihe gehören die beiden kleinen Erzählun¬
gen Atala und Neue, das prosaische Heldengedicht los Ratelie? und die
Vo^axe en .^merique; in die zweite das ^einer-tire, le äeinier 6v8
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dnretienue, und aus der spätern Zeit: 1-t vio ac liance, die IZtuävs
nistoriques, und die Übersetzung des verlorenen Paradieses mit der dazu ge¬
hörigen Einleitung: Lssai sur 1a literature anAl-life et considerirtions
zur le Konie des Komme«, des temps et lies revolutions. In dem Keule ein
cnristianisme finden beide Reihen ihren Knotenpunkt. Mit dem letztern be¬
ginne ich.

Der „Geist des Christenthums" erschien in London 1802 , in einer
Zeit, als Napoleon durch die Restauration der Kirche dem Staat der Revolution


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[0376] Studien zur Geschichte der französischen Romantik. Neuchristliche Poesie., Unter sämmtlichen Notabilitäten des neueren Frankreich ist Chateaubriand so ziemlich die einzige, welche sämmtliche Parteien zu gleicher Verehrung ver¬ einigt. Vor diesem Namen streckt die Kritik ihre Waffen, Romantiker und Klassi¬ ker finden sich auf neutralen Boden. Selbst aus der älteren Literatur findet sich kein Name von so allgemeiner Anerkennung.' Von Racine z. B. wird zwar jede Literaturgeschichte berichten, er sei ein großer Dichter gewesen, denn der Franzose ist zu eitel, um sich den Ruhm seiner Vergangenheit verkümmern zu lassen, und der leidenschaftlichste Republikaner würde sich in seinem Patriotismus verletzt füh¬ len, wenn man die Große Ludwigs XIV. zu bezweifeln wagte; aber mit jener unbedingten Anerkennung Racine's wird nur der Klassiker schließen, der Romantiker wird, wenn auch noch so bescheiden, immer hinzusetzen: in:us e'ehr perruque. Chateaubriand dagegen ist der große Mann ohne weitere Bemerkung. Für uns Deutsche hat diese Verehrung etwas Unbegreifliches. Der Inhalt seiner Poesie steht mit der öffentlichen Meinung, auch in Frankreich, in directem Widerspruch, und in seiner Form finden wir eine Frivolität und Oberflächlichkeit, wie sie selbst bei Franzosen selten ist. In einem frühern Aufsatz (Grenzboten 1848, Heft 30.) habe ich Chateaubriand als Totalität zu motiviren versucht. Ich be¬ schränke mich diesmal auf eine bestimmte Periode seiner Thätigkeit, die sich etwa auf das erste Jahrzehend unsers Jahrhunderts zurückführt, und auf eine bestimmte Seite derselben, den Versuch einer Wiederherstellung des Christenthums. Die Werte, die dahin gehören, zerfallen in zwei Reihen; sie beziehn sich nämlich entweder auf seine Wanderungen in Nordamerika oder auf seiue Pilger¬ schaft uach Jerusalem. In die erste Reihe gehören die beiden kleinen Erzählun¬ gen Atala und Neue, das prosaische Heldengedicht los Ratelie? und die Vo^axe en .^merique; in die zweite das ^einer-tire, le äeinier 6v8 ^bencei-tFö«; das Epos: lesNart^rs <>n l<z triomplio (1 v 1a reli^ion dnretienue, und aus der spätern Zeit: 1-t vio ac liance, die IZtuävs nistoriques, und die Übersetzung des verlorenen Paradieses mit der dazu ge¬ hörigen Einleitung: Lssai sur 1a literature anAl-life et considerirtions zur le Konie des Komme«, des temps et lies revolutions. In dem Keule ein cnristianisme finden beide Reihen ihren Knotenpunkt. Mit dem letztern be¬ ginne ich. Der „Geist des Christenthums" erschien in London 1802 , in einer Zeit, als Napoleon durch die Restauration der Kirche dem Staat der Revolution

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/376>, abgerufen am 04.05.2024.