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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Zum ersten Januar 185V



Die Tage des Jahres 1849 sind über unsere Häupter dahingezogen wie das
wilde Heer, finster und schreckenvoll. Aus dem Schlachtenlärm aber, den Täuschun¬
gen und der Abspannung, welche die schwere Zeit über Einzelne, wie über die
Staaten brachte, vermögen wir schon jetzt zu erkennen, daß die Deutschen grade
in diesem Jahre einen großen Fortschritt gemacht haben in den höchsten Gestal¬
tungen des menschlichen Geistes, in der Bildung ihres Staats.

Während am Ende des Jahres 48 das, was mau damals Deutschland nannte,
nichts als ein Chaos war, in welchem die feindlichen Gegensätze noch ungeschieden
zusammenlagen und die bildende Kraft der Völker noch gestört wurde durch die
fliegende Hitze eines plötzlichen Enthusiasmus, hat sich in dem Jahre der Reaction
das Nichtzusammengehörige gesondert und der leidenschaftliche Drang nach Einheit
ist in ein verständiges Erkennen der Grenzen, innerhalb derer die Vereinigung
hervorzubringen ist, und der Mittel, durch welche sie erreicht werden kann, um¬
gewandelt worden. Und der Boden des alten Germaniens mit den fremden Land¬
schaften, welche an ihn gebunden sind, bietet gegenwärtig einen Anblick dar, der
bis jetzt in der Geschichte noch nicht dagewesen ist, daß sich nämlich auf einem
Termin, welches durch historische Ueberlieferung als eine Einheit betrachtet wurde,
zwei Staatsgebilde entwickeln, welche grade die entgegengesetzten Formen
und Bedingungen für ihre Existenz zeigen, der neue Bundesstaat und das Kaiser-
thum Oestreich. Im Gebiet des Bundesstaates, zu dem wir für diese Betrach¬
tung Sachsen, Hannover und Würtemberg vorläufig zurechnen dürfen, sehn wir
eine Menge von größern und kleinen Einheiten mit souveränen, zum Theil alten
Regentenhäusern, an Selbstständigkeit gewöhnt, bis jetzt durch sehr verschiedenartige
Staatseinrichtungen von einander getrennt und über diesem Bewußtsein der Beson¬
derheit überall den lebhaften Wunsch nach einer höhern Einheit, ein sehr energisches
Streben, das Eigene und Eigenthümliche dem Gemeinschaftlichen, Allgemeinen nach¬
zusetzen. Denn trotz dem Partikularismus, welchen wir hier und da tadeln, lebt
diese ideale Sehnsucht im Grunde doch bei allen Parteien, und nur über den Weg,
auf welchem die Einheit zu erreichen, sind die Meinungen verschieden. Dagegen der


Grenzboten, i. 1850. 1
Zum ersten Januar 185V



Die Tage des Jahres 1849 sind über unsere Häupter dahingezogen wie das
wilde Heer, finster und schreckenvoll. Aus dem Schlachtenlärm aber, den Täuschun¬
gen und der Abspannung, welche die schwere Zeit über Einzelne, wie über die
Staaten brachte, vermögen wir schon jetzt zu erkennen, daß die Deutschen grade
in diesem Jahre einen großen Fortschritt gemacht haben in den höchsten Gestal¬
tungen des menschlichen Geistes, in der Bildung ihres Staats.

Während am Ende des Jahres 48 das, was mau damals Deutschland nannte,
nichts als ein Chaos war, in welchem die feindlichen Gegensätze noch ungeschieden
zusammenlagen und die bildende Kraft der Völker noch gestört wurde durch die
fliegende Hitze eines plötzlichen Enthusiasmus, hat sich in dem Jahre der Reaction
das Nichtzusammengehörige gesondert und der leidenschaftliche Drang nach Einheit
ist in ein verständiges Erkennen der Grenzen, innerhalb derer die Vereinigung
hervorzubringen ist, und der Mittel, durch welche sie erreicht werden kann, um¬
gewandelt worden. Und der Boden des alten Germaniens mit den fremden Land¬
schaften, welche an ihn gebunden sind, bietet gegenwärtig einen Anblick dar, der
bis jetzt in der Geschichte noch nicht dagewesen ist, daß sich nämlich auf einem
Termin, welches durch historische Ueberlieferung als eine Einheit betrachtet wurde,
zwei Staatsgebilde entwickeln, welche grade die entgegengesetzten Formen
und Bedingungen für ihre Existenz zeigen, der neue Bundesstaat und das Kaiser-
thum Oestreich. Im Gebiet des Bundesstaates, zu dem wir für diese Betrach¬
tung Sachsen, Hannover und Würtemberg vorläufig zurechnen dürfen, sehn wir
eine Menge von größern und kleinen Einheiten mit souveränen, zum Theil alten
Regentenhäusern, an Selbstständigkeit gewöhnt, bis jetzt durch sehr verschiedenartige
Staatseinrichtungen von einander getrennt und über diesem Bewußtsein der Beson¬
derheit überall den lebhaften Wunsch nach einer höhern Einheit, ein sehr energisches
Streben, das Eigene und Eigenthümliche dem Gemeinschaftlichen, Allgemeinen nach¬
zusetzen. Denn trotz dem Partikularismus, welchen wir hier und da tadeln, lebt
diese ideale Sehnsucht im Grunde doch bei allen Parteien, und nur über den Weg,
auf welchem die Einheit zu erreichen, sind die Meinungen verschieden. Dagegen der


Grenzboten, i. 1850. 1
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[0009] Zum ersten Januar 185V Die Tage des Jahres 1849 sind über unsere Häupter dahingezogen wie das wilde Heer, finster und schreckenvoll. Aus dem Schlachtenlärm aber, den Täuschun¬ gen und der Abspannung, welche die schwere Zeit über Einzelne, wie über die Staaten brachte, vermögen wir schon jetzt zu erkennen, daß die Deutschen grade in diesem Jahre einen großen Fortschritt gemacht haben in den höchsten Gestal¬ tungen des menschlichen Geistes, in der Bildung ihres Staats. Während am Ende des Jahres 48 das, was mau damals Deutschland nannte, nichts als ein Chaos war, in welchem die feindlichen Gegensätze noch ungeschieden zusammenlagen und die bildende Kraft der Völker noch gestört wurde durch die fliegende Hitze eines plötzlichen Enthusiasmus, hat sich in dem Jahre der Reaction das Nichtzusammengehörige gesondert und der leidenschaftliche Drang nach Einheit ist in ein verständiges Erkennen der Grenzen, innerhalb derer die Vereinigung hervorzubringen ist, und der Mittel, durch welche sie erreicht werden kann, um¬ gewandelt worden. Und der Boden des alten Germaniens mit den fremden Land¬ schaften, welche an ihn gebunden sind, bietet gegenwärtig einen Anblick dar, der bis jetzt in der Geschichte noch nicht dagewesen ist, daß sich nämlich auf einem Termin, welches durch historische Ueberlieferung als eine Einheit betrachtet wurde, zwei Staatsgebilde entwickeln, welche grade die entgegengesetzten Formen und Bedingungen für ihre Existenz zeigen, der neue Bundesstaat und das Kaiser- thum Oestreich. Im Gebiet des Bundesstaates, zu dem wir für diese Betrach¬ tung Sachsen, Hannover und Würtemberg vorläufig zurechnen dürfen, sehn wir eine Menge von größern und kleinen Einheiten mit souveränen, zum Theil alten Regentenhäusern, an Selbstständigkeit gewöhnt, bis jetzt durch sehr verschiedenartige Staatseinrichtungen von einander getrennt und über diesem Bewußtsein der Beson¬ derheit überall den lebhaften Wunsch nach einer höhern Einheit, ein sehr energisches Streben, das Eigene und Eigenthümliche dem Gemeinschaftlichen, Allgemeinen nach¬ zusetzen. Denn trotz dem Partikularismus, welchen wir hier und da tadeln, lebt diese ideale Sehnsucht im Grunde doch bei allen Parteien, und nur über den Weg, auf welchem die Einheit zu erreichen, sind die Meinungen verschieden. Dagegen der Grenzboten, i. 1850. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/9>, abgerufen am 04.05.2024.