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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Herr von RadoWitz.

Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche. Erfurt
und Leipzig, Körner.

Herr v. Nadowitz hat sein Schweigen gebrochen, und er hat sich diesmal
zum Hauptgegenstand seiner Gespräche gemacht, nicht allein in der Person seines
Doppelgängers Waldheim, der diesmal ziemlich unverhüllt als Joseph v. Radowitz
auftritt, sondern anch unter seinem eigenen Namen. Allein die Materialien, die
er zur Geschichte der letzten Jahre mittheilt, sind höchst dürftig. Eigentlich macht
er uns nur mit zwei Umständen bekannt, von denen wir wenigstens noch keine
officielle Kenntniß hatten, nämlich, daß Oestreich sich gegen Rußland engagirt hat,
die Märzcoustitutivn aufzuheben, und daß im Berliner Cabinet zur Zeit des
Fürstencvngresses die definitive Einsetzung der Unionsregiernng gar nicht in
Frage gekommen ist, sondern daß man nnr darüber berathen hat, ob die Union
definitiv aufzugeben sei, oder ob man sich zu dem Provisorium zu wenden habe,
welches nachher wirklich ins Leben trat. Beides haben wir vorher schon wenigstens
mit ziemlicher Sicherheit vermuthet. Ueber Dasjenige dagegen, was uns am
Meisten interessiren müßte, nämlich über das Verhalten der einzelnen Cabinets-
gliedcr, so wie der höchsten und allerhöchsten Personen zur Deutschen Frage,
theilt er uns nichts Positives mit, und wir können es ihm nicht verargen, denn
wenigstens so lange sein königlicher Freund lebt, ist es moralisch unmöglich. Darum
wäre es aber auch ein unzweckmäßiges Unternehmen, wenn er wirklich die Absicht
hätte, wie er in diesem Buche andeutet, eine Geschichte der letzten Jahre zu
schreiben. Ueber die geheime Geschichte derselben kann er uns Nichts mittheilen,
da ihm seine Lippen versiegelt sind, und das Bekannte historisch zu verarbeiten,
dazu würde jeder Andere, der dem Centrum der Begebenheiten weniger nahe ge¬
standen hat, geeigneter sein; auch wenn seine Fähigkeit für Geschichtschreibung
größer wäre, als dieses Buch vermuthen läßt.

Wenn er trotz dem die Rechtfertigung seiner politischen Laufbahn versucht,
so kann das mir durch Raisonnements geschehen. In diesem Felde stehen wir
ihm als ebenbürtige Gegner gegenüber, und müssen zu unserm Bedauern erkläre",
daß es ihm nach keiner Seite hin gelungen zu sein scheint.

Das Publicum, a"f welches diese Rechtfertigung zunächst berechnet ist, sind
wir, die Gorhauer, die Eigentlichen. Unsre Actien sind seit den ersten "Gesprächen
ans der Gegenwart" bedeutend gestiegen. Damals kamen wir in der Person des
guten Banquier Crusius unter allen Parteien am Schlechtesten weg, wir waren die
Einzigen, die lächerlich gemacht wurden, während alle Uebrigen, selbst die Ra¬
dieren, als berechtigte, wenn auch einseitige Erscheinungen mit christlicher Liebe
und wenigstens anscheinend unbefangener Objektivität dargestellt wurden. Diesmal


Herr von RadoWitz.

Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche. Erfurt
und Leipzig, Körner.

Herr v. Nadowitz hat sein Schweigen gebrochen, und er hat sich diesmal
zum Hauptgegenstand seiner Gespräche gemacht, nicht allein in der Person seines
Doppelgängers Waldheim, der diesmal ziemlich unverhüllt als Joseph v. Radowitz
auftritt, sondern anch unter seinem eigenen Namen. Allein die Materialien, die
er zur Geschichte der letzten Jahre mittheilt, sind höchst dürftig. Eigentlich macht
er uns nur mit zwei Umständen bekannt, von denen wir wenigstens noch keine
officielle Kenntniß hatten, nämlich, daß Oestreich sich gegen Rußland engagirt hat,
die Märzcoustitutivn aufzuheben, und daß im Berliner Cabinet zur Zeit des
Fürstencvngresses die definitive Einsetzung der Unionsregiernng gar nicht in
Frage gekommen ist, sondern daß man nnr darüber berathen hat, ob die Union
definitiv aufzugeben sei, oder ob man sich zu dem Provisorium zu wenden habe,
welches nachher wirklich ins Leben trat. Beides haben wir vorher schon wenigstens
mit ziemlicher Sicherheit vermuthet. Ueber Dasjenige dagegen, was uns am
Meisten interessiren müßte, nämlich über das Verhalten der einzelnen Cabinets-
gliedcr, so wie der höchsten und allerhöchsten Personen zur Deutschen Frage,
theilt er uns nichts Positives mit, und wir können es ihm nicht verargen, denn
wenigstens so lange sein königlicher Freund lebt, ist es moralisch unmöglich. Darum
wäre es aber auch ein unzweckmäßiges Unternehmen, wenn er wirklich die Absicht
hätte, wie er in diesem Buche andeutet, eine Geschichte der letzten Jahre zu
schreiben. Ueber die geheime Geschichte derselben kann er uns Nichts mittheilen,
da ihm seine Lippen versiegelt sind, und das Bekannte historisch zu verarbeiten,
dazu würde jeder Andere, der dem Centrum der Begebenheiten weniger nahe ge¬
standen hat, geeigneter sein; auch wenn seine Fähigkeit für Geschichtschreibung
größer wäre, als dieses Buch vermuthen läßt.

Wenn er trotz dem die Rechtfertigung seiner politischen Laufbahn versucht,
so kann das mir durch Raisonnements geschehen. In diesem Felde stehen wir
ihm als ebenbürtige Gegner gegenüber, und müssen zu unserm Bedauern erkläre»,
daß es ihm nach keiner Seite hin gelungen zu sein scheint.

Das Publicum, a»f welches diese Rechtfertigung zunächst berechnet ist, sind
wir, die Gorhauer, die Eigentlichen. Unsre Actien sind seit den ersten „Gesprächen
ans der Gegenwart" bedeutend gestiegen. Damals kamen wir in der Person des
guten Banquier Crusius unter allen Parteien am Schlechtesten weg, wir waren die
Einzigen, die lächerlich gemacht wurden, während alle Uebrigen, selbst die Ra¬
dieren, als berechtigte, wenn auch einseitige Erscheinungen mit christlicher Liebe
und wenigstens anscheinend unbefangener Objektivität dargestellt wurden. Diesmal


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[0066] Herr von RadoWitz. Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche. Erfurt und Leipzig, Körner. Herr v. Nadowitz hat sein Schweigen gebrochen, und er hat sich diesmal zum Hauptgegenstand seiner Gespräche gemacht, nicht allein in der Person seines Doppelgängers Waldheim, der diesmal ziemlich unverhüllt als Joseph v. Radowitz auftritt, sondern anch unter seinem eigenen Namen. Allein die Materialien, die er zur Geschichte der letzten Jahre mittheilt, sind höchst dürftig. Eigentlich macht er uns nur mit zwei Umständen bekannt, von denen wir wenigstens noch keine officielle Kenntniß hatten, nämlich, daß Oestreich sich gegen Rußland engagirt hat, die Märzcoustitutivn aufzuheben, und daß im Berliner Cabinet zur Zeit des Fürstencvngresses die definitive Einsetzung der Unionsregiernng gar nicht in Frage gekommen ist, sondern daß man nnr darüber berathen hat, ob die Union definitiv aufzugeben sei, oder ob man sich zu dem Provisorium zu wenden habe, welches nachher wirklich ins Leben trat. Beides haben wir vorher schon wenigstens mit ziemlicher Sicherheit vermuthet. Ueber Dasjenige dagegen, was uns am Meisten interessiren müßte, nämlich über das Verhalten der einzelnen Cabinets- gliedcr, so wie der höchsten und allerhöchsten Personen zur Deutschen Frage, theilt er uns nichts Positives mit, und wir können es ihm nicht verargen, denn wenigstens so lange sein königlicher Freund lebt, ist es moralisch unmöglich. Darum wäre es aber auch ein unzweckmäßiges Unternehmen, wenn er wirklich die Absicht hätte, wie er in diesem Buche andeutet, eine Geschichte der letzten Jahre zu schreiben. Ueber die geheime Geschichte derselben kann er uns Nichts mittheilen, da ihm seine Lippen versiegelt sind, und das Bekannte historisch zu verarbeiten, dazu würde jeder Andere, der dem Centrum der Begebenheiten weniger nahe ge¬ standen hat, geeigneter sein; auch wenn seine Fähigkeit für Geschichtschreibung größer wäre, als dieses Buch vermuthen läßt. Wenn er trotz dem die Rechtfertigung seiner politischen Laufbahn versucht, so kann das mir durch Raisonnements geschehen. In diesem Felde stehen wir ihm als ebenbürtige Gegner gegenüber, und müssen zu unserm Bedauern erkläre», daß es ihm nach keiner Seite hin gelungen zu sein scheint. Das Publicum, a»f welches diese Rechtfertigung zunächst berechnet ist, sind wir, die Gorhauer, die Eigentlichen. Unsre Actien sind seit den ersten „Gesprächen ans der Gegenwart" bedeutend gestiegen. Damals kamen wir in der Person des guten Banquier Crusius unter allen Parteien am Schlechtesten weg, wir waren die Einzigen, die lächerlich gemacht wurden, während alle Uebrigen, selbst die Ra¬ dieren, als berechtigte, wenn auch einseitige Erscheinungen mit christlicher Liebe und wenigstens anscheinend unbefangener Objektivität dargestellt wurden. Diesmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/66>, abgerufen am 03.05.2024.