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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Afrika's umfaßt; im Herzen der alten Welt gelegen scheint es den Schlüssel zu seiner
Herrschaft zu bilden. Seine Geburt hat die religiös-politische und sociale Ge¬
staltung der damals bekannten Erde erschüttert, sein Fall kann sie in das eigene
Grab mitreißen. Eine Art Schrecken vor dein Walten unbekannter Mächte
scheint uns daher die Palliativmittel zu erzwingen, die Europa's große Mächte
täglich dem Riesenkranken am Bosporus auftischen; selbst der russische Koloß
scheint sich nicht zum Losschlagen entschließen zu können, scheint zu zögern und
die Beute noch nicht genug reif für das Ervberungsschwert zu halten, das seine
Politik doch schon so lauge Und so beharrlich vorbereitet, und dies uoch dazu
jetzt, , wo er im Westen keine Nebenbuhler mehr zu fürchten, sondern höchstens
Vasallen und dienstbeflissene Thürhüter zu seineu Füßen zu haben glaubt.




Die Hansa und der deutsche Ritterorden in den Ostseeländern.
Kurt von Schlözer. Von
Berlin, Nerla., von Wilhelm Hertz.

Geschichtsforschung und Geschichtschreibung sind zwei ganz verschiedene Dinge-
Unsre Gelehrten und Historiker haben freilich im Ganzen davon kaum eine Ahnung.
Wenn sie ämsig Bibliotheken und Archive durchstöbert, Chroniken excerpirt, Urkunde"
entdeckt, entziffert haben, dann meine" sie, sei das Wesentliche ihrer Arbeit gethan. Das
weitschichtige Material wird disponirt, was eine Lücke läßt, zusammengefügt -- und el"
äußerst gelehrtes, oft sehr nützliches und bedeutendes Werk ist fertig. Aber Geschicht¬
schreiber sind die Herren darum nicht. Sie tragen den eigentlichen Geschichtschreiber"
nur den Stoff zu -- sie reiben ihnen die Farben für ihre Palette. Ein historisches
Buch, das den Anspruch auf diesen Name" erheben darf, muß ein Kunstwerk sein
vortrefflich, wenn es zugleich eigenthümliche und neue Studien in sich aufgenommen und
verarbeitet hat, eine nothwendige Bedingung ist es nicht. Nothwendig aber sind har¬
monische Zusammenfügung, plastische Gestaltung des Stoffes; dazu bedarf es eines
scharfblickender Auges, feinen Gefühls, geübter Hand -- gleichviel, ob diese Hand den
Stoff selbst herbeigetragen hat, oder ihn sich hat herbeitragen lassen. Gleichviel, den"
das rohe Material, woher es anch stamme, erfordert gleiche Behandlung, Reinigung.
Polirung; nur hier und da dürfen wohl Stäubchen liegen bleiben -- daß es absicht¬
lich geschehen, darf Keiner merken -- Stäubchen, die im Sonnenlicht der glänzende",
hellen Darstellung glitzern und funkeln in buntem, farbigem Schein.

So heißt es in dem Buche des Herrn von Schlözer, dessen Titel oben angezeigt
ist, von der Gründung Lübecks durch Heinrich den Löwen im Jahre I l S", nachdem
eine ältere Niederlassung das Jahr vorher durch Feuersbrunst zerstört war: Rasch er¬
hoben sich dort aus dem Schütte der früheren Pflanzung unter der fleißigen Hand der
Ansiedler und der Kaufleute, welche von allen Seiten herbeigezogen, die Kirchen und


Afrika's umfaßt; im Herzen der alten Welt gelegen scheint es den Schlüssel zu seiner
Herrschaft zu bilden. Seine Geburt hat die religiös-politische und sociale Ge¬
staltung der damals bekannten Erde erschüttert, sein Fall kann sie in das eigene
Grab mitreißen. Eine Art Schrecken vor dein Walten unbekannter Mächte
scheint uns daher die Palliativmittel zu erzwingen, die Europa's große Mächte
täglich dem Riesenkranken am Bosporus auftischen; selbst der russische Koloß
scheint sich nicht zum Losschlagen entschließen zu können, scheint zu zögern und
die Beute noch nicht genug reif für das Ervberungsschwert zu halten, das seine
Politik doch schon so lauge Und so beharrlich vorbereitet, und dies uoch dazu
jetzt, , wo er im Westen keine Nebenbuhler mehr zu fürchten, sondern höchstens
Vasallen und dienstbeflissene Thürhüter zu seineu Füßen zu haben glaubt.




Die Hansa und der deutsche Ritterorden in den Ostseeländern.
Kurt von Schlözer. Von
Berlin, Nerla., von Wilhelm Hertz.

Geschichtsforschung und Geschichtschreibung sind zwei ganz verschiedene Dinge-
Unsre Gelehrten und Historiker haben freilich im Ganzen davon kaum eine Ahnung.
Wenn sie ämsig Bibliotheken und Archive durchstöbert, Chroniken excerpirt, Urkunde»
entdeckt, entziffert haben, dann meine» sie, sei das Wesentliche ihrer Arbeit gethan. Das
weitschichtige Material wird disponirt, was eine Lücke läßt, zusammengefügt — und el»
äußerst gelehrtes, oft sehr nützliches und bedeutendes Werk ist fertig. Aber Geschicht¬
schreiber sind die Herren darum nicht. Sie tragen den eigentlichen Geschichtschreiber»
nur den Stoff zu — sie reiben ihnen die Farben für ihre Palette. Ein historisches
Buch, das den Anspruch auf diesen Name» erheben darf, muß ein Kunstwerk sein
vortrefflich, wenn es zugleich eigenthümliche und neue Studien in sich aufgenommen und
verarbeitet hat, eine nothwendige Bedingung ist es nicht. Nothwendig aber sind har¬
monische Zusammenfügung, plastische Gestaltung des Stoffes; dazu bedarf es eines
scharfblickender Auges, feinen Gefühls, geübter Hand — gleichviel, ob diese Hand den
Stoff selbst herbeigetragen hat, oder ihn sich hat herbeitragen lassen. Gleichviel, den»
das rohe Material, woher es anch stamme, erfordert gleiche Behandlung, Reinigung.
Polirung; nur hier und da dürfen wohl Stäubchen liegen bleiben — daß es absicht¬
lich geschehen, darf Keiner merken — Stäubchen, die im Sonnenlicht der glänzende»,
hellen Darstellung glitzern und funkeln in buntem, farbigem Schein.

So heißt es in dem Buche des Herrn von Schlözer, dessen Titel oben angezeigt
ist, von der Gründung Lübecks durch Heinrich den Löwen im Jahre I l S«, nachdem
eine ältere Niederlassung das Jahr vorher durch Feuersbrunst zerstört war: Rasch er¬
hoben sich dort aus dem Schütte der früheren Pflanzung unter der fleißigen Hand der
Ansiedler und der Kaufleute, welche von allen Seiten herbeigezogen, die Kirchen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/154>, abgerufen am 05.05.2024.