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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Wiener Zustände.

Kaum hat an einem andern Orte die moralische Verderbtheit einen höhern
Grad erreicht, als vor dem Jahre 1848 in den Hauptstädten Oestreichs und vor¬
züglich in der Residenz, wo die Sittenlosigkeit zum Systeme gehörte.

Seitdem das Gerichtsverfahren umgeändert und unsere Gerichte öffentlich
sind, hat man erkennen gelernt, daß Laster und Verbrechen nicht blos in den
untern Schichten des Volkes, sondern auch in hohem Klassen heimisch sind. Solche
Fälle wurden früher vertuscht, die Sache wurde unterdrückt. Der Jnquisitions-
proceß, der die ganze Entscheidung in die Hände eines Einzelnen legte, machte
dieses leicht möglich; der Anklageproceß legt dem Hindernisse entgegen, und die
LKronique ses,ncwlsr>,se der sogenannten hohem Stände kommt vor die Ohren
des Volkes. So z. B. erlebte man neulich das Schauspiel, daß die Sängerin
Spatzer-Gentiluvmo vor dem Richterstuhle stand, die mit dem Bruder des Stadt-
hauptmauues, einem Legationssecretair in Florenz, im Cvucubinate lebt, von ihm
erhalten wird, und mit ihm 3 Kinder erzeugt hat. Sie ist verheirathet, wenn auch
gerichtlich geschieden, was aber bei uus Katholiken, die eine eigentliche Ehescheidung
nicht zugeben, nichts verschlägt, so daß ihr Thun einem Ehebruche gleichkommt, und der
Mann ist Beamter im Ministerium, dem der Bruder des Cardinal Schwarzenberg vor¬
steht. Dieser Mann hat einen Gehalt von 12V0 Gulden jährlich und soll nach An¬
gabe seiner Coucubine ihr jährlich eine Unterstützung von 18W Gulden C.-M. gewäh¬
ren. Sie hatte einen griechischen Bischof, der bei ihr wohnte, bestohlen, und gab vor,
sie hätte mit ihm nur scherzen wollen, und das Verhältniß, in welchem sie zu ihm
stehe, habe dielen Scherz erlaubt. Der Stadthauptmann, der Alles hätte unter¬
drücken können, wenn sein Commissair ihr erlaubt hätte mit dem Bischöfe zu spre¬
chen, oder wenn er ihr das von ihr erbetene Zwiegespräch mit ihm selbst gewährt
hätte, scheint die Gelegenheit benutzen gewollt zu haben, um seinem Bruder, mit
dem er in feindlichem Verhältnisse steht, eine Wunde zu schlagen. Das Geld
war rückerstattet, der klagende Bischof selbst bat den Stadthcmptmann, die Sache,
welche den Gerichten noch nicht übergeben war, fallen zu lassen, die Frau habe
nur einen Scherz gemacht. Der Stadthauptmann sagte zu, und übergab nach
wenigen Tagen die Acten dem Untersuchungsrichter. Der Polizeicommissair, das
Organ des Stadthauptmauues aber verdarb seinem Chef den Spaß. Er war
der Hauptbelastuugszcuge und benahm sich bei der öffentlichen Hauptverhandlung so
roh, daß die Beklagte in ihrem Vorwande Glauben fand, sie habe diesem Manne
gegenüber sich nicht entschließen können, in dieser zarten Sache eine Erklärung ab¬
zugeben. Sie wurde von der Jury freigesprochen. Diese Freisprechung aber
erregte beim Volke Unwillen, das moralisch von ihrer Schuld überzeugt war, ob-
wol die Geschwornen mit Recht die Beweise der Schuld sür unzulänglich fanden. Die


Wiener Zustände.

Kaum hat an einem andern Orte die moralische Verderbtheit einen höhern
Grad erreicht, als vor dem Jahre 1848 in den Hauptstädten Oestreichs und vor¬
züglich in der Residenz, wo die Sittenlosigkeit zum Systeme gehörte.

Seitdem das Gerichtsverfahren umgeändert und unsere Gerichte öffentlich
sind, hat man erkennen gelernt, daß Laster und Verbrechen nicht blos in den
untern Schichten des Volkes, sondern auch in hohem Klassen heimisch sind. Solche
Fälle wurden früher vertuscht, die Sache wurde unterdrückt. Der Jnquisitions-
proceß, der die ganze Entscheidung in die Hände eines Einzelnen legte, machte
dieses leicht möglich; der Anklageproceß legt dem Hindernisse entgegen, und die
LKronique ses,ncwlsr>,se der sogenannten hohem Stände kommt vor die Ohren
des Volkes. So z. B. erlebte man neulich das Schauspiel, daß die Sängerin
Spatzer-Gentiluvmo vor dem Richterstuhle stand, die mit dem Bruder des Stadt-
hauptmauues, einem Legationssecretair in Florenz, im Cvucubinate lebt, von ihm
erhalten wird, und mit ihm 3 Kinder erzeugt hat. Sie ist verheirathet, wenn auch
gerichtlich geschieden, was aber bei uus Katholiken, die eine eigentliche Ehescheidung
nicht zugeben, nichts verschlägt, so daß ihr Thun einem Ehebruche gleichkommt, und der
Mann ist Beamter im Ministerium, dem der Bruder des Cardinal Schwarzenberg vor¬
steht. Dieser Mann hat einen Gehalt von 12V0 Gulden jährlich und soll nach An¬
gabe seiner Coucubine ihr jährlich eine Unterstützung von 18W Gulden C.-M. gewäh¬
ren. Sie hatte einen griechischen Bischof, der bei ihr wohnte, bestohlen, und gab vor,
sie hätte mit ihm nur scherzen wollen, und das Verhältniß, in welchem sie zu ihm
stehe, habe dielen Scherz erlaubt. Der Stadthauptmann, der Alles hätte unter¬
drücken können, wenn sein Commissair ihr erlaubt hätte mit dem Bischöfe zu spre¬
chen, oder wenn er ihr das von ihr erbetene Zwiegespräch mit ihm selbst gewährt
hätte, scheint die Gelegenheit benutzen gewollt zu haben, um seinem Bruder, mit
dem er in feindlichem Verhältnisse steht, eine Wunde zu schlagen. Das Geld
war rückerstattet, der klagende Bischof selbst bat den Stadthcmptmann, die Sache,
welche den Gerichten noch nicht übergeben war, fallen zu lassen, die Frau habe
nur einen Scherz gemacht. Der Stadthauptmann sagte zu, und übergab nach
wenigen Tagen die Acten dem Untersuchungsrichter. Der Polizeicommissair, das
Organ des Stadthauptmauues aber verdarb seinem Chef den Spaß. Er war
der Hauptbelastuugszcuge und benahm sich bei der öffentlichen Hauptverhandlung so
roh, daß die Beklagte in ihrem Vorwande Glauben fand, sie habe diesem Manne
gegenüber sich nicht entschließen können, in dieser zarten Sache eine Erklärung ab¬
zugeben. Sie wurde von der Jury freigesprochen. Diese Freisprechung aber
erregte beim Volke Unwillen, das moralisch von ihrer Schuld überzeugt war, ob-
wol die Geschwornen mit Recht die Beweise der Schuld sür unzulänglich fanden. Die


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[0160] Wiener Zustände. Kaum hat an einem andern Orte die moralische Verderbtheit einen höhern Grad erreicht, als vor dem Jahre 1848 in den Hauptstädten Oestreichs und vor¬ züglich in der Residenz, wo die Sittenlosigkeit zum Systeme gehörte. Seitdem das Gerichtsverfahren umgeändert und unsere Gerichte öffentlich sind, hat man erkennen gelernt, daß Laster und Verbrechen nicht blos in den untern Schichten des Volkes, sondern auch in hohem Klassen heimisch sind. Solche Fälle wurden früher vertuscht, die Sache wurde unterdrückt. Der Jnquisitions- proceß, der die ganze Entscheidung in die Hände eines Einzelnen legte, machte dieses leicht möglich; der Anklageproceß legt dem Hindernisse entgegen, und die LKronique ses,ncwlsr>,se der sogenannten hohem Stände kommt vor die Ohren des Volkes. So z. B. erlebte man neulich das Schauspiel, daß die Sängerin Spatzer-Gentiluvmo vor dem Richterstuhle stand, die mit dem Bruder des Stadt- hauptmauues, einem Legationssecretair in Florenz, im Cvucubinate lebt, von ihm erhalten wird, und mit ihm 3 Kinder erzeugt hat. Sie ist verheirathet, wenn auch gerichtlich geschieden, was aber bei uus Katholiken, die eine eigentliche Ehescheidung nicht zugeben, nichts verschlägt, so daß ihr Thun einem Ehebruche gleichkommt, und der Mann ist Beamter im Ministerium, dem der Bruder des Cardinal Schwarzenberg vor¬ steht. Dieser Mann hat einen Gehalt von 12V0 Gulden jährlich und soll nach An¬ gabe seiner Coucubine ihr jährlich eine Unterstützung von 18W Gulden C.-M. gewäh¬ ren. Sie hatte einen griechischen Bischof, der bei ihr wohnte, bestohlen, und gab vor, sie hätte mit ihm nur scherzen wollen, und das Verhältniß, in welchem sie zu ihm stehe, habe dielen Scherz erlaubt. Der Stadthauptmann, der Alles hätte unter¬ drücken können, wenn sein Commissair ihr erlaubt hätte mit dem Bischöfe zu spre¬ chen, oder wenn er ihr das von ihr erbetene Zwiegespräch mit ihm selbst gewährt hätte, scheint die Gelegenheit benutzen gewollt zu haben, um seinem Bruder, mit dem er in feindlichem Verhältnisse steht, eine Wunde zu schlagen. Das Geld war rückerstattet, der klagende Bischof selbst bat den Stadthcmptmann, die Sache, welche den Gerichten noch nicht übergeben war, fallen zu lassen, die Frau habe nur einen Scherz gemacht. Der Stadthauptmann sagte zu, und übergab nach wenigen Tagen die Acten dem Untersuchungsrichter. Der Polizeicommissair, das Organ des Stadthauptmauues aber verdarb seinem Chef den Spaß. Er war der Hauptbelastuugszcuge und benahm sich bei der öffentlichen Hauptverhandlung so roh, daß die Beklagte in ihrem Vorwande Glauben fand, sie habe diesem Manne gegenüber sich nicht entschließen können, in dieser zarten Sache eine Erklärung ab¬ zugeben. Sie wurde von der Jury freigesprochen. Diese Freisprechung aber erregte beim Volke Unwillen, das moralisch von ihrer Schuld überzeugt war, ob- wol die Geschwornen mit Recht die Beweise der Schuld sür unzulänglich fanden. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/160>, abgerufen am 28.04.2024.