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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Diese Stimmung seines Gemüths entsprach der Zeit. Was damals von
Talent vorhanden war, trug sich mit ähnlichen Tendenzen. Der maßlose Wissens¬
drang des Faust und die maßlose Sinnlichkeit des Don Juan, die als eine Dop-
pelnatur zuerst vou Grabbe zusammengestellt wurden, eben so der politische Unmuth,
der den hochgespannter Erwartungen des Jahres 1830 folgte, die verbannten
Polen, die zu einem Trauerlied heruntergekommene Marseillaise u. s. w., das
sind die Bilder, in denen sich die damalige Lyrik ausschließlich bewegte. Lenau's
Freiheitsgedichte übertreffen an Zorn und an Charakter die meisten seiner Vor¬
gänger und Nachfolger, obgleich eigentlich das Gemeinleben des Volks nicht das
seinige war. Er war Aristokrat wie Lord Byron, nur den Dichtern zugänglich,
Und den stillsten von ihnen am Zugänglichsten. Sein inniges Verhältniß zu
Justinus Kerner, dem einsamen Geisterseher, darf man nicht außer Acht lassen,
wenn man sich von ihm ein vollständiges Bild machen will. Er verschmähte
eben so den Cynismus Heine's, der sich im Gefühl der allgemeinen Nichtswürdig¬
keit sättigt, wie das zufriedene Pathos der meisten übrigen Freiheitssänger, die
sich mit ihrer Declamation oder mit ihrer Melancholie ein vollständiges Genüge
gethan zu haben glaube". Fragmentarisch wie sein Dichten war sein Leben und
Empfinden, und er ist eine von jenen zahlreichen Naturen unseres Vaterlandes,
deren Dichtung uns eben so betrübt wie ihr Leben, weil weder das Eine noch
das Andere sich zu einem Ganzen abrundete. Das Grauenhafte seines äußerlichen
Schicksals giebt bei ihm dieser Trauer einen erschütternden Charakter.




Die musikalische Saison in Berlin.

Der verflossene Winter gehört in musikalischer Beziehung nicht zu den
glänzendsten. Es sehlte ihm ein eigentlicher Mittelpunkt; des Interessanten und
Guten wurde zwar Vieles geboten, aber-von der Art, daß sich nur ein kleiner
Theil des Publicums dafür erwärmte. Andrerseits war aber auch die Zersplit¬
terung der Kräfte nicht so groß, wie im Jahre vorher. Ich berichtete Ihnen
früher von dem Treiben der sogenannten Bezirks-Concerte. Bei der unglaub¬
lichen Masse solcher Concerte, zu denen tüchtige Künstler durch die Last äußerer
Beziehungen und Rücksichten fast mit Gewalt herbeigezogen wurden, war die da¬
durch hervorgerufene Vergeudung der Kräfte höchst bedeutend; die Vortheile, die
für die Bildung der niedern Volksklassen entstehen konnten, waren mindestens
zweifelhaft. Glücklicher Weise hat sich der Sturm der Bezirkscoucerte etwas be¬
ruhigt; sie existiren noch, aber in weit geringerer Zahl und mit größerer An-
spruchslosigkeit. Im Vordergründe stehen unter ihnen die Concerte des Treu-


Diese Stimmung seines Gemüths entsprach der Zeit. Was damals von
Talent vorhanden war, trug sich mit ähnlichen Tendenzen. Der maßlose Wissens¬
drang des Faust und die maßlose Sinnlichkeit des Don Juan, die als eine Dop-
pelnatur zuerst vou Grabbe zusammengestellt wurden, eben so der politische Unmuth,
der den hochgespannter Erwartungen des Jahres 1830 folgte, die verbannten
Polen, die zu einem Trauerlied heruntergekommene Marseillaise u. s. w., das
sind die Bilder, in denen sich die damalige Lyrik ausschließlich bewegte. Lenau's
Freiheitsgedichte übertreffen an Zorn und an Charakter die meisten seiner Vor¬
gänger und Nachfolger, obgleich eigentlich das Gemeinleben des Volks nicht das
seinige war. Er war Aristokrat wie Lord Byron, nur den Dichtern zugänglich,
Und den stillsten von ihnen am Zugänglichsten. Sein inniges Verhältniß zu
Justinus Kerner, dem einsamen Geisterseher, darf man nicht außer Acht lassen,
wenn man sich von ihm ein vollständiges Bild machen will. Er verschmähte
eben so den Cynismus Heine's, der sich im Gefühl der allgemeinen Nichtswürdig¬
keit sättigt, wie das zufriedene Pathos der meisten übrigen Freiheitssänger, die
sich mit ihrer Declamation oder mit ihrer Melancholie ein vollständiges Genüge
gethan zu haben glaube». Fragmentarisch wie sein Dichten war sein Leben und
Empfinden, und er ist eine von jenen zahlreichen Naturen unseres Vaterlandes,
deren Dichtung uns eben so betrübt wie ihr Leben, weil weder das Eine noch
das Andere sich zu einem Ganzen abrundete. Das Grauenhafte seines äußerlichen
Schicksals giebt bei ihm dieser Trauer einen erschütternden Charakter.




Die musikalische Saison in Berlin.

Der verflossene Winter gehört in musikalischer Beziehung nicht zu den
glänzendsten. Es sehlte ihm ein eigentlicher Mittelpunkt; des Interessanten und
Guten wurde zwar Vieles geboten, aber-von der Art, daß sich nur ein kleiner
Theil des Publicums dafür erwärmte. Andrerseits war aber auch die Zersplit¬
terung der Kräfte nicht so groß, wie im Jahre vorher. Ich berichtete Ihnen
früher von dem Treiben der sogenannten Bezirks-Concerte. Bei der unglaub¬
lichen Masse solcher Concerte, zu denen tüchtige Künstler durch die Last äußerer
Beziehungen und Rücksichten fast mit Gewalt herbeigezogen wurden, war die da¬
durch hervorgerufene Vergeudung der Kräfte höchst bedeutend; die Vortheile, die
für die Bildung der niedern Volksklassen entstehen konnten, waren mindestens
zweifelhaft. Glücklicher Weise hat sich der Sturm der Bezirkscoucerte etwas be¬
ruhigt; sie existiren noch, aber in weit geringerer Zahl und mit größerer An-
spruchslosigkeit. Im Vordergründe stehen unter ihnen die Concerte des Treu-


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[0178] Diese Stimmung seines Gemüths entsprach der Zeit. Was damals von Talent vorhanden war, trug sich mit ähnlichen Tendenzen. Der maßlose Wissens¬ drang des Faust und die maßlose Sinnlichkeit des Don Juan, die als eine Dop- pelnatur zuerst vou Grabbe zusammengestellt wurden, eben so der politische Unmuth, der den hochgespannter Erwartungen des Jahres 1830 folgte, die verbannten Polen, die zu einem Trauerlied heruntergekommene Marseillaise u. s. w., das sind die Bilder, in denen sich die damalige Lyrik ausschließlich bewegte. Lenau's Freiheitsgedichte übertreffen an Zorn und an Charakter die meisten seiner Vor¬ gänger und Nachfolger, obgleich eigentlich das Gemeinleben des Volks nicht das seinige war. Er war Aristokrat wie Lord Byron, nur den Dichtern zugänglich, Und den stillsten von ihnen am Zugänglichsten. Sein inniges Verhältniß zu Justinus Kerner, dem einsamen Geisterseher, darf man nicht außer Acht lassen, wenn man sich von ihm ein vollständiges Bild machen will. Er verschmähte eben so den Cynismus Heine's, der sich im Gefühl der allgemeinen Nichtswürdig¬ keit sättigt, wie das zufriedene Pathos der meisten übrigen Freiheitssänger, die sich mit ihrer Declamation oder mit ihrer Melancholie ein vollständiges Genüge gethan zu haben glaube». Fragmentarisch wie sein Dichten war sein Leben und Empfinden, und er ist eine von jenen zahlreichen Naturen unseres Vaterlandes, deren Dichtung uns eben so betrübt wie ihr Leben, weil weder das Eine noch das Andere sich zu einem Ganzen abrundete. Das Grauenhafte seines äußerlichen Schicksals giebt bei ihm dieser Trauer einen erschütternden Charakter. Die musikalische Saison in Berlin. Der verflossene Winter gehört in musikalischer Beziehung nicht zu den glänzendsten. Es sehlte ihm ein eigentlicher Mittelpunkt; des Interessanten und Guten wurde zwar Vieles geboten, aber-von der Art, daß sich nur ein kleiner Theil des Publicums dafür erwärmte. Andrerseits war aber auch die Zersplit¬ terung der Kräfte nicht so groß, wie im Jahre vorher. Ich berichtete Ihnen früher von dem Treiben der sogenannten Bezirks-Concerte. Bei der unglaub¬ lichen Masse solcher Concerte, zu denen tüchtige Künstler durch die Last äußerer Beziehungen und Rücksichten fast mit Gewalt herbeigezogen wurden, war die da¬ durch hervorgerufene Vergeudung der Kräfte höchst bedeutend; die Vortheile, die für die Bildung der niedern Volksklassen entstehen konnten, waren mindestens zweifelhaft. Glücklicher Weise hat sich der Sturm der Bezirkscoucerte etwas be¬ ruhigt; sie existiren noch, aber in weit geringerer Zahl und mit größerer An- spruchslosigkeit. Im Vordergründe stehen unter ihnen die Concerte des Treu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/178>, abgerufen am 29.04.2024.