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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Charakterbilder aus der Deutschen Restanratious-
literatur.
A. Heinrich v. Kleist.

Woher der düstre Unmuth unsrer Zeit,
Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit?
Das Sterben in der Dämnicruug ist Schuld
An dieser sreudcnarmcn Ungeduld;
Herd' ist, das langersehnte Licht nicht schauen,
Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen, -- --

Lena u,

Kleist hat das eigene Schicksal gehabt, daß er erst einige Zeit nach seinem
Tode eine renommirte Figur in der Deutschen Poesie wurde. Der jungen Ge¬
neration seiner Zeit, die sich in Ueberschwcnglichkeiten überbot, galt er als eine
kalte prosaische Natur, sowol in seinem Leben wie in seinen Dichtungen, und es
waren unter den damaligen Kritikern nur Einige, die sein außerordentliches Talent
gebührend zu würdigen verstanden, namentlich Huber, im Uebrigen ein entschie¬
dener, leidenschaftlicher Gegner der romantischen Schule, der auch in unserm Dichter
die Spuren von der falschen Richtung der Zeit entdeckte, sich aber dadurch nicht
abhalten ließ, in ihm den großen Genius zu ehren. Ludwig Tieck hat das große
Verdienst, dnrch die Gesammtausgabe seiner Werke im Jahre 1826 die Aufmerk¬
samkeit des Deutschen Publicums wieder ans ihn gelenkt zu haben. Die Richtung
der Zeit hatte sich mittlerweile wesentlich verändert. Man war der gestaltlosen
Ueberschwcnglichkeiten satt und sehnte sich nach energischen Empfindungen, wenn
sie auch in herber Form auftreten mochten. Kleist fand namentlich unter den
"Geistreichen" eine große Anerkennung, nud man war sast geneigt, ans der andern
Seite zu weit zu gehen. Wir dürfen es nie aus den Angen lassen, daß bis zu
einer gewissen Grenze das Urtheil der Zeitgenossen immer seine Berechtigung hat,
auch wenn es sich gegen Charaktere richtet, die in mancher Beziehung über dem
Zeitalter stehen. Ich mochte diese Stellung eine Schuld nennen, wenn mit
diesem Worte in neuerer Zeit nicht ein so schreiender Mißbrauch getrieben wäre.


Grenzboten. II. 18SI. 51
Charakterbilder aus der Deutschen Restanratious-
literatur.
A. Heinrich v. Kleist.

Woher der düstre Unmuth unsrer Zeit,
Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit?
Das Sterben in der Dämnicruug ist Schuld
An dieser sreudcnarmcn Ungeduld;
Herd' ist, das langersehnte Licht nicht schauen,
Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen, — —

Lena u,

Kleist hat das eigene Schicksal gehabt, daß er erst einige Zeit nach seinem
Tode eine renommirte Figur in der Deutschen Poesie wurde. Der jungen Ge¬
neration seiner Zeit, die sich in Ueberschwcnglichkeiten überbot, galt er als eine
kalte prosaische Natur, sowol in seinem Leben wie in seinen Dichtungen, und es
waren unter den damaligen Kritikern nur Einige, die sein außerordentliches Talent
gebührend zu würdigen verstanden, namentlich Huber, im Uebrigen ein entschie¬
dener, leidenschaftlicher Gegner der romantischen Schule, der auch in unserm Dichter
die Spuren von der falschen Richtung der Zeit entdeckte, sich aber dadurch nicht
abhalten ließ, in ihm den großen Genius zu ehren. Ludwig Tieck hat das große
Verdienst, dnrch die Gesammtausgabe seiner Werke im Jahre 1826 die Aufmerk¬
samkeit des Deutschen Publicums wieder ans ihn gelenkt zu haben. Die Richtung
der Zeit hatte sich mittlerweile wesentlich verändert. Man war der gestaltlosen
Ueberschwcnglichkeiten satt und sehnte sich nach energischen Empfindungen, wenn
sie auch in herber Form auftreten mochten. Kleist fand namentlich unter den
„Geistreichen" eine große Anerkennung, nud man war sast geneigt, ans der andern
Seite zu weit zu gehen. Wir dürfen es nie aus den Angen lassen, daß bis zu
einer gewissen Grenze das Urtheil der Zeitgenossen immer seine Berechtigung hat,
auch wenn es sich gegen Charaktere richtet, die in mancher Beziehung über dem
Zeitalter stehen. Ich mochte diese Stellung eine Schuld nennen, wenn mit
diesem Worte in neuerer Zeit nicht ein so schreiender Mißbrauch getrieben wäre.


Grenzboten. II. 18SI. 51
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[0333] Charakterbilder aus der Deutschen Restanratious- literatur. A. Heinrich v. Kleist. Woher der düstre Unmuth unsrer Zeit, Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit? Das Sterben in der Dämnicruug ist Schuld An dieser sreudcnarmcn Ungeduld; Herd' ist, das langersehnte Licht nicht schauen, Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen, — — Lena u, Kleist hat das eigene Schicksal gehabt, daß er erst einige Zeit nach seinem Tode eine renommirte Figur in der Deutschen Poesie wurde. Der jungen Ge¬ neration seiner Zeit, die sich in Ueberschwcnglichkeiten überbot, galt er als eine kalte prosaische Natur, sowol in seinem Leben wie in seinen Dichtungen, und es waren unter den damaligen Kritikern nur Einige, die sein außerordentliches Talent gebührend zu würdigen verstanden, namentlich Huber, im Uebrigen ein entschie¬ dener, leidenschaftlicher Gegner der romantischen Schule, der auch in unserm Dichter die Spuren von der falschen Richtung der Zeit entdeckte, sich aber dadurch nicht abhalten ließ, in ihm den großen Genius zu ehren. Ludwig Tieck hat das große Verdienst, dnrch die Gesammtausgabe seiner Werke im Jahre 1826 die Aufmerk¬ samkeit des Deutschen Publicums wieder ans ihn gelenkt zu haben. Die Richtung der Zeit hatte sich mittlerweile wesentlich verändert. Man war der gestaltlosen Ueberschwcnglichkeiten satt und sehnte sich nach energischen Empfindungen, wenn sie auch in herber Form auftreten mochten. Kleist fand namentlich unter den „Geistreichen" eine große Anerkennung, nud man war sast geneigt, ans der andern Seite zu weit zu gehen. Wir dürfen es nie aus den Angen lassen, daß bis zu einer gewissen Grenze das Urtheil der Zeitgenossen immer seine Berechtigung hat, auch wenn es sich gegen Charaktere richtet, die in mancher Beziehung über dem Zeitalter stehen. Ich mochte diese Stellung eine Schuld nennen, wenn mit diesem Worte in neuerer Zeit nicht ein so schreiender Mißbrauch getrieben wäre. Grenzboten. II. 18SI. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/333>, abgerufen am 29.04.2024.