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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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über welche im vorigen Jahrhundert die gesammte Akademie i" sprachloses Ent¬
setzen gerathen wäre, fallen heute Niemandem mehr ans. Wenn man Michelet,
Quinet und Aehnliche liest, so glaubt man sich vollständig auf Deutschem Boden.
Diese Veränderung der Sprache, zu der freilich anch die romantischen Dichter viel
beigetragen haben, ist doch vorzugsweise ein Werk der Journalisten; aber anch
in dieser Beziehung stehe ich wenigstens nicht an, der altfranzösischen Sprache
den Vorzug zu gebe". Die Babylonische Verwirrung in den Gedanken und
Bildern, die grenzenlose Unklarheit, der gegenstandlose Witz und das verschwim¬
mende überschwengliche Gefühl, das heute in Paris Mode ist, geben nicht die
geringste Hoffnung zu einer gesunden Entwickelung. Der alte Classicismus, d. h.
der gesunde Menschenverstand und das natürliche Gefühl, mittlerweile von der
übergroßen Nüchternheit des vorigen Jahrhunderts geheilt, wird sich zunächst in
der Form der Wissenschaft und auf der Tribune gegen diese romantische Verwirrung
erheben, denn sie ist ein fremder Tropfen im Französischen Blut.




Zigeuner und Musikbanden in Ungar".

Ich muß vor Allem als gutgesinnter Staatsbürger Gesammtöstreichs aus deu
allgemein bekannten, aber zu wenig gewürdigten Umstand aufmerksam macheu, daß
das Polyglottenthum des Olmützer Gesammtstaates sich nicht nur auf die Zungen,
sondern auch auf die Kehlen und Saiten erstreckt. Die Musik Italiens ist lächelnd, wie
das Blau seines Himmels und schäkernd wie der Muthwille seiner Frauen. Ein
Ungarischer Schriftsteller nennt Italien einen zerrissenen Triller, dessen Bruchstücke
dem Fremden als freches Gejohle erscheinen, und der mir in dem Busen seine Wür¬
digung findet, dem er in künstlerischer Vollkommenheit entsprungen ist. -- Die
Gemüthlichkeit des Oestreichers, Steiermärkers und Tyrolcrs offenbart sich in
seinem jovialen Gejodel und dem gleichgiltig-sorglosen Ländler. -- In der Polka
und Krakovienne scheint der Pole das Vernichtnngsurtheil der Großmächte Lügen
zu strafe". Der Böhme ist das musikalische Universalgenie der Oestreichischen
Monarchie; er hat keine eigene, nationale Musik, aber er wandert mit seiner Flöte/
Hoboe oder Geige über die Karpathen wie über das Erzgebirge, und ergötzt
Ungarn, Polen und Deutsche mit ihren nationalen und auch classischen Tonstückeu.

Ungarn für sich- ist kein octroyirtes, aber von Natur und Geschichte hervor¬
gebrachtes, und durch die geographische Lage nothwendig gewordenes Gesammt-
vaterland mehrerer Volksstämme, die über kurz oder lang zu der Einsicht gelangen
müssen, daß der Zweck des staatlichen Zusammenlebens: die Veredlung des In¬
dividuums wie der Gattung, weder durch nationale Suprematien, noch dnrch lächer¬
liche Geltendmachung eines oder des andern Duodezvölkchens erreicht wird. --


über welche im vorigen Jahrhundert die gesammte Akademie i» sprachloses Ent¬
setzen gerathen wäre, fallen heute Niemandem mehr ans. Wenn man Michelet,
Quinet und Aehnliche liest, so glaubt man sich vollständig auf Deutschem Boden.
Diese Veränderung der Sprache, zu der freilich anch die romantischen Dichter viel
beigetragen haben, ist doch vorzugsweise ein Werk der Journalisten; aber anch
in dieser Beziehung stehe ich wenigstens nicht an, der altfranzösischen Sprache
den Vorzug zu gebe». Die Babylonische Verwirrung in den Gedanken und
Bildern, die grenzenlose Unklarheit, der gegenstandlose Witz und das verschwim¬
mende überschwengliche Gefühl, das heute in Paris Mode ist, geben nicht die
geringste Hoffnung zu einer gesunden Entwickelung. Der alte Classicismus, d. h.
der gesunde Menschenverstand und das natürliche Gefühl, mittlerweile von der
übergroßen Nüchternheit des vorigen Jahrhunderts geheilt, wird sich zunächst in
der Form der Wissenschaft und auf der Tribune gegen diese romantische Verwirrung
erheben, denn sie ist ein fremder Tropfen im Französischen Blut.




Zigeuner und Musikbanden in Ungar«.

Ich muß vor Allem als gutgesinnter Staatsbürger Gesammtöstreichs aus deu
allgemein bekannten, aber zu wenig gewürdigten Umstand aufmerksam macheu, daß
das Polyglottenthum des Olmützer Gesammtstaates sich nicht nur auf die Zungen,
sondern auch auf die Kehlen und Saiten erstreckt. Die Musik Italiens ist lächelnd, wie
das Blau seines Himmels und schäkernd wie der Muthwille seiner Frauen. Ein
Ungarischer Schriftsteller nennt Italien einen zerrissenen Triller, dessen Bruchstücke
dem Fremden als freches Gejohle erscheinen, und der mir in dem Busen seine Wür¬
digung findet, dem er in künstlerischer Vollkommenheit entsprungen ist. — Die
Gemüthlichkeit des Oestreichers, Steiermärkers und Tyrolcrs offenbart sich in
seinem jovialen Gejodel und dem gleichgiltig-sorglosen Ländler. — In der Polka
und Krakovienne scheint der Pole das Vernichtnngsurtheil der Großmächte Lügen
zu strafe». Der Böhme ist das musikalische Universalgenie der Oestreichischen
Monarchie; er hat keine eigene, nationale Musik, aber er wandert mit seiner Flöte/
Hoboe oder Geige über die Karpathen wie über das Erzgebirge, und ergötzt
Ungarn, Polen und Deutsche mit ihren nationalen und auch classischen Tonstückeu.

Ungarn für sich- ist kein octroyirtes, aber von Natur und Geschichte hervor¬
gebrachtes, und durch die geographische Lage nothwendig gewordenes Gesammt-
vaterland mehrerer Volksstämme, die über kurz oder lang zu der Einsicht gelangen
müssen, daß der Zweck des staatlichen Zusammenlebens: die Veredlung des In¬
dividuums wie der Gattung, weder durch nationale Suprematien, noch dnrch lächer¬
liche Geltendmachung eines oder des andern Duodezvölkchens erreicht wird. —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/386>, abgerufen am 28.04.2024.