Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Hier fällt uns besonders der Umstand auf, daß während die Sprachen der Unga¬
rischen Volksstämme zu einem Kampfe führten, der ganz Europa in convnlstve
Spannung versetzte, haben sich die verschiedenen Musikwcisen der Ungarischen
Volksstämme schon längst eine wirkliche Gleichberechtigung erworben. -- Dem Ma¬
gyaren ist sein Rakoczy-Marsch, sein "ssriss "8 lassu" (Allegro und Adagio), sein.
"LLäiMs" (Pusten-Tanz) und "verdunkos" (Tauzstücke werdender Husaren) über
Alles werth', aber sein tiefes, leicht erregbares Gefühl läßt ihn auch an den trauern¬
den Slovenischen und bettelnden Wallachischen Nationalweisen Wohlgefallen finden,
und diese sind in solchem Maße in die eigentlich-Magyarische Nationalmusik über¬
gegangen, daß sie fast bis zur Unkenntlichkeit mit einander verschmolzen sind.

Vieles mögen zu diesem Gemenge die Zigeuner beigetragen haben. Der Zi¬
geuner ist bekanntlich ein mit dem Kainszeichen belastetes, unstätes Wesen, und war
es in früherer Zeit noch in höherem Maße. -- Heute unterscheidet man in Ungarn
zwei große Abtheilungen dieser "Heimathlosen im Heimathslande". Die noch jetzt in
größern oderkleinern Familiengruppen herumziehenden Zigeuner-Caravanen, die eine
Anzahl zerbrochener, mit elenden Schindmähren bespannter Wagen mit sich führen, auf
welchen unter einer hundertfach durchlöcherten schmuzigen Leinwanddecke eine Legion
ölbrauner, blos mit Menschenleder bekleideter Kinder und halbnackter Weiber hocken,
und durch die hundert Fenster der Leinwanddecke hervorgucken. Die Männer
und wandernngssähigen Weiber und Mädchen gehen aus der Heerstraße neben
den schwerbepackten und ans allen Fugen knarrenden Wagen einher, und geben
sich dem Wanderer schon in ziemlicher Entfernung durch ihr überlautes, gellendes
Geschwätz in einem aus Magyarischen, Wallachischen und Slavischen Wörtern und
einer Anzahl Koptischer und Jndischer Wurzeln entstandenen Jargon zu erkennen. --
Ist die Caravane an dem Ende eines Dorfes angelangt, so macht sie vor dem¬
selben Halt, verwandelt die Leiuwanddächer der Wagen in stehende Zelte, läßt
die Pferde in den Straßengräben weiden, und schlägt gewöhnlich eine improvisirte
Schmiede auf, wo für die Bauern des Dorfes und der Umgegend Nägel, Ofen-
gabeln, Feuerzangen, Essen, Wagenringe und dergleichen fit einen bedeutend
billigern Preis, als die gewöhnlichen Schmiede zu verlangen pflegen, verfertigt werden,
während ein Theil der Gesellschaft, und besonders der weibliche, sich mit dein edlen
Schinderhandwerke, mit Weissagen, Zanbertilgnngen und -- wenn's eben angeht --
Stehlen beschäftigt. Die hoffnungsvolle Jugend übt indessen die bereits von den
Griechen hochgerühmte Kunst der Gymnastik, und ergötzt die vorüberfcchrendcn
Reisenden halbe Stunden lang mit den in Ungarn allgemein bekannten "Zigeuner-
Rädern" -- eine Art Purzelbäume, bei welchen sich der Körper wie ein Rad
nach einer Seite von den Händen ans die Füße, wieder auf die Hände und so
weiter wirft -- was die Reisenden gewöhnlich, nachdem der junge Künstler diesen
Tanz eine ziemlich lange Strecke an der Seite ihres Wagens ausgeführt hat,
mit einem Kupferkreuzer zu belohnen Pflegen. -- Doch diese guten Leutchen pflegen


Hier fällt uns besonders der Umstand auf, daß während die Sprachen der Unga¬
rischen Volksstämme zu einem Kampfe führten, der ganz Europa in convnlstve
Spannung versetzte, haben sich die verschiedenen Musikwcisen der Ungarischen
Volksstämme schon längst eine wirkliche Gleichberechtigung erworben. — Dem Ma¬
gyaren ist sein Rakoczy-Marsch, sein „ssriss «8 lassu" (Allegro und Adagio), sein.
„LLäiMs" (Pusten-Tanz) und „verdunkos" (Tauzstücke werdender Husaren) über
Alles werth', aber sein tiefes, leicht erregbares Gefühl läßt ihn auch an den trauern¬
den Slovenischen und bettelnden Wallachischen Nationalweisen Wohlgefallen finden,
und diese sind in solchem Maße in die eigentlich-Magyarische Nationalmusik über¬
gegangen, daß sie fast bis zur Unkenntlichkeit mit einander verschmolzen sind.

Vieles mögen zu diesem Gemenge die Zigeuner beigetragen haben. Der Zi¬
geuner ist bekanntlich ein mit dem Kainszeichen belastetes, unstätes Wesen, und war
es in früherer Zeit noch in höherem Maße. — Heute unterscheidet man in Ungarn
zwei große Abtheilungen dieser „Heimathlosen im Heimathslande". Die noch jetzt in
größern oderkleinern Familiengruppen herumziehenden Zigeuner-Caravanen, die eine
Anzahl zerbrochener, mit elenden Schindmähren bespannter Wagen mit sich führen, auf
welchen unter einer hundertfach durchlöcherten schmuzigen Leinwanddecke eine Legion
ölbrauner, blos mit Menschenleder bekleideter Kinder und halbnackter Weiber hocken,
und durch die hundert Fenster der Leinwanddecke hervorgucken. Die Männer
und wandernngssähigen Weiber und Mädchen gehen aus der Heerstraße neben
den schwerbepackten und ans allen Fugen knarrenden Wagen einher, und geben
sich dem Wanderer schon in ziemlicher Entfernung durch ihr überlautes, gellendes
Geschwätz in einem aus Magyarischen, Wallachischen und Slavischen Wörtern und
einer Anzahl Koptischer und Jndischer Wurzeln entstandenen Jargon zu erkennen. —
Ist die Caravane an dem Ende eines Dorfes angelangt, so macht sie vor dem¬
selben Halt, verwandelt die Leiuwanddächer der Wagen in stehende Zelte, läßt
die Pferde in den Straßengräben weiden, und schlägt gewöhnlich eine improvisirte
Schmiede auf, wo für die Bauern des Dorfes und der Umgegend Nägel, Ofen-
gabeln, Feuerzangen, Essen, Wagenringe und dergleichen fit einen bedeutend
billigern Preis, als die gewöhnlichen Schmiede zu verlangen pflegen, verfertigt werden,
während ein Theil der Gesellschaft, und besonders der weibliche, sich mit dein edlen
Schinderhandwerke, mit Weissagen, Zanbertilgnngen und — wenn's eben angeht —
Stehlen beschäftigt. Die hoffnungsvolle Jugend übt indessen die bereits von den
Griechen hochgerühmte Kunst der Gymnastik, und ergötzt die vorüberfcchrendcn
Reisenden halbe Stunden lang mit den in Ungarn allgemein bekannten „Zigeuner-
Rädern" — eine Art Purzelbäume, bei welchen sich der Körper wie ein Rad
nach einer Seite von den Händen ans die Füße, wieder auf die Hände und so
weiter wirft — was die Reisenden gewöhnlich, nachdem der junge Künstler diesen
Tanz eine ziemlich lange Strecke an der Seite ihres Wagens ausgeführt hat,
mit einem Kupferkreuzer zu belohnen Pflegen. — Doch diese guten Leutchen pflegen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91580"/>
          <p xml:id="ID_1057" prev="#ID_1056"> Hier fällt uns besonders der Umstand auf, daß während die Sprachen der Unga¬<lb/>
rischen Volksstämme zu einem Kampfe führten, der ganz Europa in convnlstve<lb/>
Spannung versetzte, haben sich die verschiedenen Musikwcisen der Ungarischen<lb/>
Volksstämme schon längst eine wirkliche Gleichberechtigung erworben. &#x2014; Dem Ma¬<lb/>
gyaren ist sein Rakoczy-Marsch, sein &#x201E;ssriss «8 lassu" (Allegro und Adagio), sein.<lb/>
&#x201E;LLäiMs" (Pusten-Tanz) und &#x201E;verdunkos" (Tauzstücke werdender Husaren) über<lb/>
Alles werth', aber sein tiefes, leicht erregbares Gefühl läßt ihn auch an den trauern¬<lb/>
den Slovenischen und bettelnden Wallachischen Nationalweisen Wohlgefallen finden,<lb/>
und diese sind in solchem Maße in die eigentlich-Magyarische Nationalmusik über¬<lb/>
gegangen, daß sie fast bis zur Unkenntlichkeit mit einander verschmolzen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1058" next="#ID_1059"> Vieles mögen zu diesem Gemenge die Zigeuner beigetragen haben. Der Zi¬<lb/>
geuner ist bekanntlich ein mit dem Kainszeichen belastetes, unstätes Wesen, und war<lb/>
es in früherer Zeit noch in höherem Maße. &#x2014; Heute unterscheidet man in Ungarn<lb/>
zwei große Abtheilungen dieser &#x201E;Heimathlosen im Heimathslande". Die noch jetzt in<lb/>
größern oderkleinern Familiengruppen herumziehenden Zigeuner-Caravanen, die eine<lb/>
Anzahl zerbrochener, mit elenden Schindmähren bespannter Wagen mit sich führen, auf<lb/>
welchen unter einer hundertfach durchlöcherten schmuzigen Leinwanddecke eine Legion<lb/>
ölbrauner, blos mit Menschenleder bekleideter Kinder und halbnackter Weiber hocken,<lb/>
und durch die hundert Fenster der Leinwanddecke hervorgucken. Die Männer<lb/>
und wandernngssähigen Weiber und Mädchen gehen aus der Heerstraße neben<lb/>
den schwerbepackten und ans allen Fugen knarrenden Wagen einher, und geben<lb/>
sich dem Wanderer schon in ziemlicher Entfernung durch ihr überlautes, gellendes<lb/>
Geschwätz in einem aus Magyarischen, Wallachischen und Slavischen Wörtern und<lb/>
einer Anzahl Koptischer und Jndischer Wurzeln entstandenen Jargon zu erkennen. &#x2014;<lb/>
Ist die Caravane an dem Ende eines Dorfes angelangt, so macht sie vor dem¬<lb/>
selben Halt, verwandelt die Leiuwanddächer der Wagen in stehende Zelte, läßt<lb/>
die Pferde in den Straßengräben weiden, und schlägt gewöhnlich eine improvisirte<lb/>
Schmiede auf, wo für die Bauern des Dorfes und der Umgegend Nägel, Ofen-<lb/>
gabeln, Feuerzangen, Essen, Wagenringe und dergleichen fit einen bedeutend<lb/>
billigern Preis, als die gewöhnlichen Schmiede zu verlangen pflegen, verfertigt werden,<lb/>
während ein Theil der Gesellschaft, und besonders der weibliche, sich mit dein edlen<lb/>
Schinderhandwerke, mit Weissagen, Zanbertilgnngen und &#x2014; wenn's eben angeht &#x2014;<lb/>
Stehlen beschäftigt. Die hoffnungsvolle Jugend übt indessen die bereits von den<lb/>
Griechen hochgerühmte Kunst der Gymnastik, und ergötzt die vorüberfcchrendcn<lb/>
Reisenden halbe Stunden lang mit den in Ungarn allgemein bekannten &#x201E;Zigeuner-<lb/>
Rädern" &#x2014; eine Art Purzelbäume, bei welchen sich der Körper wie ein Rad<lb/>
nach einer Seite von den Händen ans die Füße, wieder auf die Hände und so<lb/>
weiter wirft &#x2014; was die Reisenden gewöhnlich, nachdem der junge Künstler diesen<lb/>
Tanz eine ziemlich lange Strecke an der Seite ihres Wagens ausgeführt hat,<lb/>
mit einem Kupferkreuzer zu belohnen Pflegen. &#x2014; Doch diese guten Leutchen pflegen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0387] Hier fällt uns besonders der Umstand auf, daß während die Sprachen der Unga¬ rischen Volksstämme zu einem Kampfe führten, der ganz Europa in convnlstve Spannung versetzte, haben sich die verschiedenen Musikwcisen der Ungarischen Volksstämme schon längst eine wirkliche Gleichberechtigung erworben. — Dem Ma¬ gyaren ist sein Rakoczy-Marsch, sein „ssriss «8 lassu" (Allegro und Adagio), sein. „LLäiMs" (Pusten-Tanz) und „verdunkos" (Tauzstücke werdender Husaren) über Alles werth', aber sein tiefes, leicht erregbares Gefühl läßt ihn auch an den trauern¬ den Slovenischen und bettelnden Wallachischen Nationalweisen Wohlgefallen finden, und diese sind in solchem Maße in die eigentlich-Magyarische Nationalmusik über¬ gegangen, daß sie fast bis zur Unkenntlichkeit mit einander verschmolzen sind. Vieles mögen zu diesem Gemenge die Zigeuner beigetragen haben. Der Zi¬ geuner ist bekanntlich ein mit dem Kainszeichen belastetes, unstätes Wesen, und war es in früherer Zeit noch in höherem Maße. — Heute unterscheidet man in Ungarn zwei große Abtheilungen dieser „Heimathlosen im Heimathslande". Die noch jetzt in größern oderkleinern Familiengruppen herumziehenden Zigeuner-Caravanen, die eine Anzahl zerbrochener, mit elenden Schindmähren bespannter Wagen mit sich führen, auf welchen unter einer hundertfach durchlöcherten schmuzigen Leinwanddecke eine Legion ölbrauner, blos mit Menschenleder bekleideter Kinder und halbnackter Weiber hocken, und durch die hundert Fenster der Leinwanddecke hervorgucken. Die Männer und wandernngssähigen Weiber und Mädchen gehen aus der Heerstraße neben den schwerbepackten und ans allen Fugen knarrenden Wagen einher, und geben sich dem Wanderer schon in ziemlicher Entfernung durch ihr überlautes, gellendes Geschwätz in einem aus Magyarischen, Wallachischen und Slavischen Wörtern und einer Anzahl Koptischer und Jndischer Wurzeln entstandenen Jargon zu erkennen. — Ist die Caravane an dem Ende eines Dorfes angelangt, so macht sie vor dem¬ selben Halt, verwandelt die Leiuwanddächer der Wagen in stehende Zelte, läßt die Pferde in den Straßengräben weiden, und schlägt gewöhnlich eine improvisirte Schmiede auf, wo für die Bauern des Dorfes und der Umgegend Nägel, Ofen- gabeln, Feuerzangen, Essen, Wagenringe und dergleichen fit einen bedeutend billigern Preis, als die gewöhnlichen Schmiede zu verlangen pflegen, verfertigt werden, während ein Theil der Gesellschaft, und besonders der weibliche, sich mit dein edlen Schinderhandwerke, mit Weissagen, Zanbertilgnngen und — wenn's eben angeht — Stehlen beschäftigt. Die hoffnungsvolle Jugend übt indessen die bereits von den Griechen hochgerühmte Kunst der Gymnastik, und ergötzt die vorüberfcchrendcn Reisenden halbe Stunden lang mit den in Ungarn allgemein bekannten „Zigeuner- Rädern" — eine Art Purzelbäume, bei welchen sich der Körper wie ein Rad nach einer Seite von den Händen ans die Füße, wieder auf die Hände und so weiter wirft — was die Reisenden gewöhnlich, nachdem der junge Künstler diesen Tanz eine ziemlich lange Strecke an der Seite ihres Wagens ausgeführt hat, mit einem Kupferkreuzer zu belohnen Pflegen. — Doch diese guten Leutchen pflegen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/387
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/387>, abgerufen am 14.05.2024.