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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Charakterbilder aus der Deutschen Restaurations-
Literatur.
Z a es ar i a s Werner.
4.

Obgleich Werner bei unserm Publicum ziemlich in Vergessenheit gerathen ist,
so steht er doch in einer doppelten Beziehung noch in einem wesentlichen Ver¬
hältniß zur Gegenwart. Wir können ihn einmal als abschreckendes Beispiel an¬
wenden für jene unklare protestantische Sehnsucht, die endlich in den Schooß der
alleinseligmachenden Kirche zurückführt, und die sich heutzutage wieder in mehrern
unverkennbaren Symptomen äußert; wir können ihn sodann als Repräsentanten
einer falschen dramatischen Richtung charakterisiren, die eine Zeit lang aus unsrer
Bühne geherrscht hat, und die man gewöhnlich mit dem Namen der Schicksals¬
tragödie bezeichnet, obgleich dieser Name das Wesen der Sache nicht ganz aus¬
drückt. Denn wie falsch auch die Anwendung gewesen sein möge, welche man
von dem Schicksal, das heißt der Summe der auf den Menschen ohne sein Zu¬
thun einwirkenden Thatsachen, gemacht hat, namentlich wenn man dasselbe an
zufällige Daten und Gegenstände knüpfte, so ist diese Verkehrtheit doch sehr un¬
bedeutend gegen den allgemeinen Vorwurf, den man diesem romantischen Schau¬
spiel zu machen hat, daß es nämlich zwei Kunstgattungen, die Oper und das
Drama, auf eine gedankenlose Weise durch einander wirst. Diese Verwechselung
war in der damaligen Richtung der Zeit so allgemein, daß auch Goethe und
Schiller sich nicht ganz frei davon erhalten haben. Schiller hat in seiner Recension
des Egmont vollkommen richtig jenen Mißbrauch der Musik zurückgewiesen, der
unmittelbar auf die Stimmung einwirken will, während das eigentliche Drama
nur durch- das Medium des Verstandes sich des Gemüthes bemächtigen soll; er
ist aber in der Braut vou Messina und der Jungfrau vou Orleans in den näm¬
lichen Fehler verfallen. Daß in Goethe's Faust sich eine Reihe bloßer Opern-


Grenzvoten, ii. 1851. 66
Charakterbilder aus der Deutschen Restaurations-
Literatur.
Z a es ar i a s Werner.
4.

Obgleich Werner bei unserm Publicum ziemlich in Vergessenheit gerathen ist,
so steht er doch in einer doppelten Beziehung noch in einem wesentlichen Ver¬
hältniß zur Gegenwart. Wir können ihn einmal als abschreckendes Beispiel an¬
wenden für jene unklare protestantische Sehnsucht, die endlich in den Schooß der
alleinseligmachenden Kirche zurückführt, und die sich heutzutage wieder in mehrern
unverkennbaren Symptomen äußert; wir können ihn sodann als Repräsentanten
einer falschen dramatischen Richtung charakterisiren, die eine Zeit lang aus unsrer
Bühne geherrscht hat, und die man gewöhnlich mit dem Namen der Schicksals¬
tragödie bezeichnet, obgleich dieser Name das Wesen der Sache nicht ganz aus¬
drückt. Denn wie falsch auch die Anwendung gewesen sein möge, welche man
von dem Schicksal, das heißt der Summe der auf den Menschen ohne sein Zu¬
thun einwirkenden Thatsachen, gemacht hat, namentlich wenn man dasselbe an
zufällige Daten und Gegenstände knüpfte, so ist diese Verkehrtheit doch sehr un¬
bedeutend gegen den allgemeinen Vorwurf, den man diesem romantischen Schau¬
spiel zu machen hat, daß es nämlich zwei Kunstgattungen, die Oper und das
Drama, auf eine gedankenlose Weise durch einander wirst. Diese Verwechselung
war in der damaligen Richtung der Zeit so allgemein, daß auch Goethe und
Schiller sich nicht ganz frei davon erhalten haben. Schiller hat in seiner Recension
des Egmont vollkommen richtig jenen Mißbrauch der Musik zurückgewiesen, der
unmittelbar auf die Stimmung einwirken will, während das eigentliche Drama
nur durch- das Medium des Verstandes sich des Gemüthes bemächtigen soll; er
ist aber in der Braut vou Messina und der Jungfrau vou Orleans in den näm¬
lichen Fehler verfallen. Daß in Goethe's Faust sich eine Reihe bloßer Opern-


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[0453] Charakterbilder aus der Deutschen Restaurations- Literatur. Z a es ar i a s Werner. 4. Obgleich Werner bei unserm Publicum ziemlich in Vergessenheit gerathen ist, so steht er doch in einer doppelten Beziehung noch in einem wesentlichen Ver¬ hältniß zur Gegenwart. Wir können ihn einmal als abschreckendes Beispiel an¬ wenden für jene unklare protestantische Sehnsucht, die endlich in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche zurückführt, und die sich heutzutage wieder in mehrern unverkennbaren Symptomen äußert; wir können ihn sodann als Repräsentanten einer falschen dramatischen Richtung charakterisiren, die eine Zeit lang aus unsrer Bühne geherrscht hat, und die man gewöhnlich mit dem Namen der Schicksals¬ tragödie bezeichnet, obgleich dieser Name das Wesen der Sache nicht ganz aus¬ drückt. Denn wie falsch auch die Anwendung gewesen sein möge, welche man von dem Schicksal, das heißt der Summe der auf den Menschen ohne sein Zu¬ thun einwirkenden Thatsachen, gemacht hat, namentlich wenn man dasselbe an zufällige Daten und Gegenstände knüpfte, so ist diese Verkehrtheit doch sehr un¬ bedeutend gegen den allgemeinen Vorwurf, den man diesem romantischen Schau¬ spiel zu machen hat, daß es nämlich zwei Kunstgattungen, die Oper und das Drama, auf eine gedankenlose Weise durch einander wirst. Diese Verwechselung war in der damaligen Richtung der Zeit so allgemein, daß auch Goethe und Schiller sich nicht ganz frei davon erhalten haben. Schiller hat in seiner Recension des Egmont vollkommen richtig jenen Mißbrauch der Musik zurückgewiesen, der unmittelbar auf die Stimmung einwirken will, während das eigentliche Drama nur durch- das Medium des Verstandes sich des Gemüthes bemächtigen soll; er ist aber in der Braut vou Messina und der Jungfrau vou Orleans in den näm¬ lichen Fehler verfallen. Daß in Goethe's Faust sich eine Reihe bloßer Opern- Grenzvoten, ii. 1851. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/453>, abgerufen am 29.04.2024.