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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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so bezieht sich dies weniger auf die eigentlichen Harzer, als auf die zigeunerhafte
und gefürchtete Bevölkerung vom katholischen Eixselde hinter dem Harze, welche
das größte Kreuz und die Zuchtruthe des niedersächsischen Bauern in dieser Ge¬
gend ist. Am nördlichen Gebirgsabhange zieht nur die Stadt Quedlinburg ein
Proletariat, das seines Gleichen vielleicht in ganz Deutschland nicht hat, und
dessen stets betrunkene Sprößlinge einzeln als Bettelmusikanten im Lande umher¬
ziehen. Die Vorfahren wurden durch die außerordentliche Wohlthätigkeit des
berühmten Stiftes, dessen Aebtissin einst die Gräfin Aurora von Köuigömark war,
nach Quedlinburg gezogen, und ihre Nachkommen bewohnen noch jetzt, dem viel-
thürmigen Schlosse mit der Stiftskirche gegenüber, den eben so berüchtigten als
romantisch gelegenen Münzenberg, ein Bettler- und Vagabondenviertel im gro߬
artigsten Maßstabe, das den gefürchtetsten Stadttheilen in den größten Städten
H. P. Enropa's Nichts nachgiebt.




Charakterbilder aus der Deutschen Reftaurations-
Literatur.
Zacharias Werner.
'-"^'''^'^ ^ '

In Warschau hielt sich Werner diesmal nnr anderthalb Jahr auf. Seine
ziemlich ausgebreiteten Bekanntschaften in den höhern Kreisen verschafften ihm
180S eine einträgliche Sinecur in Berlin. Dort lernte er die bisher nur aus
der Ferne verehrten Männer, Schlegel, Fichte, Schütz u. s. w., persönlich kennen.
Vorzüglich aber wirkte auf ihn der Umgang mit Iffland, damals Schanspiel-
director in Berlin, der sich sehr für ihn interessirte, und im Juni 1806 sein drittes
Stück: "Martin Luther oder die Weihe der Kraft", auf die Bühne brachte, in
einer glänzenden Ausstattung, in den Hauptrollen sehr gut gespielt und durch eine
von Bierey im trefflichsten Kirchenstyl gesetzte Musik begleitet. Die bedeutendsten
Bühnen folgten diesem Vorgang, und das Stück machte Epoche, obgleich es auch
nicht an Gegnern fehlte, so daß z. B. eine Gesellschaft von Officieren in Berlin
den Martin Luther zum Gegenstaud einer Maskenschlittenfahrt machte. Es er¬
schien im nächsten Jahr im Druck.

Werner hat auch in diesem Drama gezeigt, daß er wol das Talent besaß,
zweckmäßige Stoffe, die ihm namentlich von der Geschichte her überliefert waren,
für das Theater geschickt zu arrangiren. Dahin gehört z. B. die bekannte Scene:
Luther auf dem Reichstage zu Worms, die auch in viele unsrer Gedichtsammlungen


so bezieht sich dies weniger auf die eigentlichen Harzer, als auf die zigeunerhafte
und gefürchtete Bevölkerung vom katholischen Eixselde hinter dem Harze, welche
das größte Kreuz und die Zuchtruthe des niedersächsischen Bauern in dieser Ge¬
gend ist. Am nördlichen Gebirgsabhange zieht nur die Stadt Quedlinburg ein
Proletariat, das seines Gleichen vielleicht in ganz Deutschland nicht hat, und
dessen stets betrunkene Sprößlinge einzeln als Bettelmusikanten im Lande umher¬
ziehen. Die Vorfahren wurden durch die außerordentliche Wohlthätigkeit des
berühmten Stiftes, dessen Aebtissin einst die Gräfin Aurora von Köuigömark war,
nach Quedlinburg gezogen, und ihre Nachkommen bewohnen noch jetzt, dem viel-
thürmigen Schlosse mit der Stiftskirche gegenüber, den eben so berüchtigten als
romantisch gelegenen Münzenberg, ein Bettler- und Vagabondenviertel im gro߬
artigsten Maßstabe, das den gefürchtetsten Stadttheilen in den größten Städten
H. P. Enropa's Nichts nachgiebt.




Charakterbilder aus der Deutschen Reftaurations-
Literatur.
Zacharias Werner.
'-"^'''^'^ ^ '

In Warschau hielt sich Werner diesmal nnr anderthalb Jahr auf. Seine
ziemlich ausgebreiteten Bekanntschaften in den höhern Kreisen verschafften ihm
180S eine einträgliche Sinecur in Berlin. Dort lernte er die bisher nur aus
der Ferne verehrten Männer, Schlegel, Fichte, Schütz u. s. w., persönlich kennen.
Vorzüglich aber wirkte auf ihn der Umgang mit Iffland, damals Schanspiel-
director in Berlin, der sich sehr für ihn interessirte, und im Juni 1806 sein drittes
Stück: „Martin Luther oder die Weihe der Kraft", auf die Bühne brachte, in
einer glänzenden Ausstattung, in den Hauptrollen sehr gut gespielt und durch eine
von Bierey im trefflichsten Kirchenstyl gesetzte Musik begleitet. Die bedeutendsten
Bühnen folgten diesem Vorgang, und das Stück machte Epoche, obgleich es auch
nicht an Gegnern fehlte, so daß z. B. eine Gesellschaft von Officieren in Berlin
den Martin Luther zum Gegenstaud einer Maskenschlittenfahrt machte. Es er¬
schien im nächsten Jahr im Druck.

Werner hat auch in diesem Drama gezeigt, daß er wol das Talent besaß,
zweckmäßige Stoffe, die ihm namentlich von der Geschichte her überliefert waren,
für das Theater geschickt zu arrangiren. Dahin gehört z. B. die bekannte Scene:
Luther auf dem Reichstage zu Worms, die auch in viele unsrer Gedichtsammlungen


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[0508] so bezieht sich dies weniger auf die eigentlichen Harzer, als auf die zigeunerhafte und gefürchtete Bevölkerung vom katholischen Eixselde hinter dem Harze, welche das größte Kreuz und die Zuchtruthe des niedersächsischen Bauern in dieser Ge¬ gend ist. Am nördlichen Gebirgsabhange zieht nur die Stadt Quedlinburg ein Proletariat, das seines Gleichen vielleicht in ganz Deutschland nicht hat, und dessen stets betrunkene Sprößlinge einzeln als Bettelmusikanten im Lande umher¬ ziehen. Die Vorfahren wurden durch die außerordentliche Wohlthätigkeit des berühmten Stiftes, dessen Aebtissin einst die Gräfin Aurora von Köuigömark war, nach Quedlinburg gezogen, und ihre Nachkommen bewohnen noch jetzt, dem viel- thürmigen Schlosse mit der Stiftskirche gegenüber, den eben so berüchtigten als romantisch gelegenen Münzenberg, ein Bettler- und Vagabondenviertel im gro߬ artigsten Maßstabe, das den gefürchtetsten Stadttheilen in den größten Städten H. P. Enropa's Nichts nachgiebt. Charakterbilder aus der Deutschen Reftaurations- Literatur. Zacharias Werner. '-"^'''^'^ ^ ' In Warschau hielt sich Werner diesmal nnr anderthalb Jahr auf. Seine ziemlich ausgebreiteten Bekanntschaften in den höhern Kreisen verschafften ihm 180S eine einträgliche Sinecur in Berlin. Dort lernte er die bisher nur aus der Ferne verehrten Männer, Schlegel, Fichte, Schütz u. s. w., persönlich kennen. Vorzüglich aber wirkte auf ihn der Umgang mit Iffland, damals Schanspiel- director in Berlin, der sich sehr für ihn interessirte, und im Juni 1806 sein drittes Stück: „Martin Luther oder die Weihe der Kraft", auf die Bühne brachte, in einer glänzenden Ausstattung, in den Hauptrollen sehr gut gespielt und durch eine von Bierey im trefflichsten Kirchenstyl gesetzte Musik begleitet. Die bedeutendsten Bühnen folgten diesem Vorgang, und das Stück machte Epoche, obgleich es auch nicht an Gegnern fehlte, so daß z. B. eine Gesellschaft von Officieren in Berlin den Martin Luther zum Gegenstaud einer Maskenschlittenfahrt machte. Es er¬ schien im nächsten Jahr im Druck. Werner hat auch in diesem Drama gezeigt, daß er wol das Talent besaß, zweckmäßige Stoffe, die ihm namentlich von der Geschichte her überliefert waren, für das Theater geschickt zu arrangiren. Dahin gehört z. B. die bekannte Scene: Luther auf dem Reichstage zu Worms, die auch in viele unsrer Gedichtsammlungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/508>, abgerufen am 28.04.2024.