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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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es in Kruge, weil es das ganze Jahr hindurch zu vielen Dingen gut ist. Am
Abende des Tages lodert noch, mit dem Osterwasser verwandt, das heidnische
Osterfeuer ans den Bergen empor. In der Frühe der Pfingstmorgen steigt man
auf die Berge und singt geistliche und weltliche Lieder. Auch sonst aber hört der
Reisende, der durch eins der stillen Thäler, in denen der Thüringische Charakter
vorherrscht, wie z. B. das Wipperthal, schreitet, an milden Abenden oft den an¬
genehmsten Gesang von hellen und kräftigen Männerstimmen, und sieht, wenn
er ausschaut, den wackern ciaritor lovi, eine große behäbige Thüringische Figur,
auf der Spitze eines rundlichen, kahlen Berges gerade über dem Kirchthurme der
zu seinen Füßen liegenden Ortschaft stehen und feinen Sängerchor dirigiren, den
er, beiläufig gesagt, in den Mußestunden auch mit dem besten Erfolg im Trom¬
peten und Geigen unterrichtet. Wie in jedem Gebirge, so sind anch hier die
Schützenfeste allgemein. In den Städten können als eigentliche Volksfeste die
sogenannten "Wiesen" gelten, eine Art Laubhüttenfest, wo die Honoratioren sich
an Vogelschießen und Märkten sür ganze Wochen im Freien ihre Zelte bauen;
die "Wiese" ist besonders in Eisleben und Stolberg, und in Quedlinburg
unter dem Namen Kleers zu Hause. Die Märkte sind hier noch wichtig,
theils weil Manches eingekauft werden muß, was im offenen Lande jede Wirthschaft
selbst erzeugt, wie den Flachs, theils weil sie einen geselligen Mittelpunkt bilden,
da Freunde und Verwandte sich nur selten sehen. Wo die Städte zu weit aus
einander liegen, ist ein Marktflecken eingeschoben, wie Wippra zwischen Mannsfeld
und Harzgerode, der an den Tagen, wo der Kalender ihn mit einem Sternchen
unter dem Texte aufführt, ein reges Leben entfaltet; selbst der Aermste kauft sich
hier seinen Hering aus der Tonne, wäscht ihn im Flusse ab und verzehrt ihn aus
freier Hand, um dann mit einem Paar "Schtäbbeln" und andern Einkäufen, die
er über den Stock gehängt trägt, von Schnaps oder Bier beseligt, in dem bekannten
Marktschritte heimzukehren.

Ein Proletariat in der Art, wie im Sächsischen Erzgebirge, findet man glück¬
licher Weise noch nicht; doch ist das demoralisirende, aber an Orten, die von Fremden
viel besucht werden, schwer zu vermeidende Betteln der Kinder ein großer und all¬
gemeiner Uebelstand. An den hochgelegenen Orten sind die Kröpfe zu Hause, und
in den Hüttenörtern sieht man die Unglücklichen, die von der "Hüttenkatze" (Blei-
cholik) gelähmt sind, auf Nollbretern sich fortschieben; zum Glück ist jeder Berg¬
mann eine Art Snbalternbeamter und bei Krankheit und Unglück durch kleine
Penstonen nothdürftig vor dem äußersten Elend geschützt. Seur die Harzträgerinnen,
im offenen Lande "Harznucken" genannt, werden dem wohlhabenden Bauer wol
zuweilen lästig, wenn sie in die fruchtbare niedersächsische Ebene niedersteigen, und
er verspottet sie, weil sie seine Wirthschaftsgeräthe, besonders den Spinnrocken,
nicht.zu gebrauchen verstehen. Wenn er in Zeiten, wo Korn und Nahrung
theuer ist, wegen der vielen Bettler klagt: der ganze Harz ist auf den Beinen,


es in Kruge, weil es das ganze Jahr hindurch zu vielen Dingen gut ist. Am
Abende des Tages lodert noch, mit dem Osterwasser verwandt, das heidnische
Osterfeuer ans den Bergen empor. In der Frühe der Pfingstmorgen steigt man
auf die Berge und singt geistliche und weltliche Lieder. Auch sonst aber hört der
Reisende, der durch eins der stillen Thäler, in denen der Thüringische Charakter
vorherrscht, wie z. B. das Wipperthal, schreitet, an milden Abenden oft den an¬
genehmsten Gesang von hellen und kräftigen Männerstimmen, und sieht, wenn
er ausschaut, den wackern ciaritor lovi, eine große behäbige Thüringische Figur,
auf der Spitze eines rundlichen, kahlen Berges gerade über dem Kirchthurme der
zu seinen Füßen liegenden Ortschaft stehen und feinen Sängerchor dirigiren, den
er, beiläufig gesagt, in den Mußestunden auch mit dem besten Erfolg im Trom¬
peten und Geigen unterrichtet. Wie in jedem Gebirge, so sind anch hier die
Schützenfeste allgemein. In den Städten können als eigentliche Volksfeste die
sogenannten „Wiesen" gelten, eine Art Laubhüttenfest, wo die Honoratioren sich
an Vogelschießen und Märkten sür ganze Wochen im Freien ihre Zelte bauen;
die „Wiese" ist besonders in Eisleben und Stolberg, und in Quedlinburg
unter dem Namen Kleers zu Hause. Die Märkte sind hier noch wichtig,
theils weil Manches eingekauft werden muß, was im offenen Lande jede Wirthschaft
selbst erzeugt, wie den Flachs, theils weil sie einen geselligen Mittelpunkt bilden,
da Freunde und Verwandte sich nur selten sehen. Wo die Städte zu weit aus
einander liegen, ist ein Marktflecken eingeschoben, wie Wippra zwischen Mannsfeld
und Harzgerode, der an den Tagen, wo der Kalender ihn mit einem Sternchen
unter dem Texte aufführt, ein reges Leben entfaltet; selbst der Aermste kauft sich
hier seinen Hering aus der Tonne, wäscht ihn im Flusse ab und verzehrt ihn aus
freier Hand, um dann mit einem Paar „Schtäbbeln" und andern Einkäufen, die
er über den Stock gehängt trägt, von Schnaps oder Bier beseligt, in dem bekannten
Marktschritte heimzukehren.

Ein Proletariat in der Art, wie im Sächsischen Erzgebirge, findet man glück¬
licher Weise noch nicht; doch ist das demoralisirende, aber an Orten, die von Fremden
viel besucht werden, schwer zu vermeidende Betteln der Kinder ein großer und all¬
gemeiner Uebelstand. An den hochgelegenen Orten sind die Kröpfe zu Hause, und
in den Hüttenörtern sieht man die Unglücklichen, die von der „Hüttenkatze" (Blei-
cholik) gelähmt sind, auf Nollbretern sich fortschieben; zum Glück ist jeder Berg¬
mann eine Art Snbalternbeamter und bei Krankheit und Unglück durch kleine
Penstonen nothdürftig vor dem äußersten Elend geschützt. Seur die Harzträgerinnen,
im offenen Lande „Harznucken" genannt, werden dem wohlhabenden Bauer wol
zuweilen lästig, wenn sie in die fruchtbare niedersächsische Ebene niedersteigen, und
er verspottet sie, weil sie seine Wirthschaftsgeräthe, besonders den Spinnrocken,
nicht.zu gebrauchen verstehen. Wenn er in Zeiten, wo Korn und Nahrung
theuer ist, wegen der vielen Bettler klagt: der ganze Harz ist auf den Beinen,


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[0507] es in Kruge, weil es das ganze Jahr hindurch zu vielen Dingen gut ist. Am Abende des Tages lodert noch, mit dem Osterwasser verwandt, das heidnische Osterfeuer ans den Bergen empor. In der Frühe der Pfingstmorgen steigt man auf die Berge und singt geistliche und weltliche Lieder. Auch sonst aber hört der Reisende, der durch eins der stillen Thäler, in denen der Thüringische Charakter vorherrscht, wie z. B. das Wipperthal, schreitet, an milden Abenden oft den an¬ genehmsten Gesang von hellen und kräftigen Männerstimmen, und sieht, wenn er ausschaut, den wackern ciaritor lovi, eine große behäbige Thüringische Figur, auf der Spitze eines rundlichen, kahlen Berges gerade über dem Kirchthurme der zu seinen Füßen liegenden Ortschaft stehen und feinen Sängerchor dirigiren, den er, beiläufig gesagt, in den Mußestunden auch mit dem besten Erfolg im Trom¬ peten und Geigen unterrichtet. Wie in jedem Gebirge, so sind anch hier die Schützenfeste allgemein. In den Städten können als eigentliche Volksfeste die sogenannten „Wiesen" gelten, eine Art Laubhüttenfest, wo die Honoratioren sich an Vogelschießen und Märkten sür ganze Wochen im Freien ihre Zelte bauen; die „Wiese" ist besonders in Eisleben und Stolberg, und in Quedlinburg unter dem Namen Kleers zu Hause. Die Märkte sind hier noch wichtig, theils weil Manches eingekauft werden muß, was im offenen Lande jede Wirthschaft selbst erzeugt, wie den Flachs, theils weil sie einen geselligen Mittelpunkt bilden, da Freunde und Verwandte sich nur selten sehen. Wo die Städte zu weit aus einander liegen, ist ein Marktflecken eingeschoben, wie Wippra zwischen Mannsfeld und Harzgerode, der an den Tagen, wo der Kalender ihn mit einem Sternchen unter dem Texte aufführt, ein reges Leben entfaltet; selbst der Aermste kauft sich hier seinen Hering aus der Tonne, wäscht ihn im Flusse ab und verzehrt ihn aus freier Hand, um dann mit einem Paar „Schtäbbeln" und andern Einkäufen, die er über den Stock gehängt trägt, von Schnaps oder Bier beseligt, in dem bekannten Marktschritte heimzukehren. Ein Proletariat in der Art, wie im Sächsischen Erzgebirge, findet man glück¬ licher Weise noch nicht; doch ist das demoralisirende, aber an Orten, die von Fremden viel besucht werden, schwer zu vermeidende Betteln der Kinder ein großer und all¬ gemeiner Uebelstand. An den hochgelegenen Orten sind die Kröpfe zu Hause, und in den Hüttenörtern sieht man die Unglücklichen, die von der „Hüttenkatze" (Blei- cholik) gelähmt sind, auf Nollbretern sich fortschieben; zum Glück ist jeder Berg¬ mann eine Art Snbalternbeamter und bei Krankheit und Unglück durch kleine Penstonen nothdürftig vor dem äußersten Elend geschützt. Seur die Harzträgerinnen, im offenen Lande „Harznucken" genannt, werden dem wohlhabenden Bauer wol zuweilen lästig, wenn sie in die fruchtbare niedersächsische Ebene niedersteigen, und er verspottet sie, weil sie seine Wirthschaftsgeräthe, besonders den Spinnrocken, nicht.zu gebrauchen verstehen. Wenn er in Zeiten, wo Korn und Nahrung theuer ist, wegen der vielen Bettler klagt: der ganze Harz ist auf den Beinen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/507>, abgerufen am 14.05.2024.