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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Die neueste englische Literatur bietet uns, wenn wir von einzelnen Ausnah¬
men, namentlich Dickens, absehen, ein Schauspiel, welches wohl geeignet ist, unsre
gewöhnlichen Begriffe von dem klaren natürlichen Gefühl und dem gefunden
Menschenverstand des britischen Volks über den Haufen zu werfen. Eine ganze
Reihe von Schriftstellern, zum Theil mit bedeutendem Talent ausgestattet,
Earlyle, Bailey, Browning, Tennyson, Taylor, Thackcray, Kiugsley u. s. w.
-- wetteifern mit einander, uns die Kehrseite des menschlichen Lebeus, die geheim-
nißvollen Abnormitäten des menschlichen Herzens darzustellen, und zwar in einer
Form, die durch ihr trübes, phantastisches, unklares Wesen, durch ihre beständigen
Sprünge aus dem Erhabenen ins Barocke auffallend an ähnliche Erscheinungen
der deutscheu Literatur erinnert. Es ist keineswegs das Behagen am Gemeinen
und Häßlichen, das ihre Richtung bestimmt, im Gegentheil ein unendlich gestei¬
gerter, hochfliegender Idealismus, der in seinem vergeblichen Ringen nach wirklicher
Gestaltung sich endlich mit Trauer und Zorn darauf resignirt, eine allgemeine
wüste Oede zu beleuchten, in der nur das vorhanden ist, was nicht sein soll.
Der Weltschmerz, jener ungesunde Ausfluß unsrer überreizten Einbildungskraft,
scheint sich jetzt in der englischem Literatur festsetzen zu wolle", uur daß es die
Engländer nach ihrer Gewohnheit gründlicher und gewissenhafter treiben, als
wir. Derselbe Grund, aus dem wir die Häßlichkeit des Inhalts erklären müssen,
bedingt auch die Seltsamkeit der Form. Nicht aus Gleichgiltigkeit oder Gering-
schätzung der Kunst, sondern ans einem zu hochfliegenden Begriff vou der Kunst
werden alle bisher anerkannten Gesetze der künstlerischen Composition bei Seite ge¬
worfen. Wenn z. B. Carlyle in seiner Geschichte der französischen Revolution
versucht, deu ideellen und den endlichen, empirischen Zusammenhang der Ereignisse
gleichzeitig darzustellen, wenn er also seinen Gegenstand in demselben Augenblicke
vou der Vogelperspective aus betrachte" will, wo er ihn mit dem Mikroskop unter¬
sucht, so geht daraus hewor, daß er weder die eine uoch die andere seiner Auf¬
gaben erfüllt; die ideelle Anschauung wird durch die Fülle des Details überwuchert,
und das Detail wird durch die willkürliche Beleuchtung verfälscht.


Grenzboten. I. I8ö2. ^ 21
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Die neueste englische Literatur bietet uns, wenn wir von einzelnen Ausnah¬
men, namentlich Dickens, absehen, ein Schauspiel, welches wohl geeignet ist, unsre
gewöhnlichen Begriffe von dem klaren natürlichen Gefühl und dem gefunden
Menschenverstand des britischen Volks über den Haufen zu werfen. Eine ganze
Reihe von Schriftstellern, zum Theil mit bedeutendem Talent ausgestattet,
Earlyle, Bailey, Browning, Tennyson, Taylor, Thackcray, Kiugsley u. s. w.
— wetteifern mit einander, uns die Kehrseite des menschlichen Lebeus, die geheim-
nißvollen Abnormitäten des menschlichen Herzens darzustellen, und zwar in einer
Form, die durch ihr trübes, phantastisches, unklares Wesen, durch ihre beständigen
Sprünge aus dem Erhabenen ins Barocke auffallend an ähnliche Erscheinungen
der deutscheu Literatur erinnert. Es ist keineswegs das Behagen am Gemeinen
und Häßlichen, das ihre Richtung bestimmt, im Gegentheil ein unendlich gestei¬
gerter, hochfliegender Idealismus, der in seinem vergeblichen Ringen nach wirklicher
Gestaltung sich endlich mit Trauer und Zorn darauf resignirt, eine allgemeine
wüste Oede zu beleuchten, in der nur das vorhanden ist, was nicht sein soll.
Der Weltschmerz, jener ungesunde Ausfluß unsrer überreizten Einbildungskraft,
scheint sich jetzt in der englischem Literatur festsetzen zu wolle», uur daß es die
Engländer nach ihrer Gewohnheit gründlicher und gewissenhafter treiben, als
wir. Derselbe Grund, aus dem wir die Häßlichkeit des Inhalts erklären müssen,
bedingt auch die Seltsamkeit der Form. Nicht aus Gleichgiltigkeit oder Gering-
schätzung der Kunst, sondern ans einem zu hochfliegenden Begriff vou der Kunst
werden alle bisher anerkannten Gesetze der künstlerischen Composition bei Seite ge¬
worfen. Wenn z. B. Carlyle in seiner Geschichte der französischen Revolution
versucht, deu ideellen und den endlichen, empirischen Zusammenhang der Ereignisse
gleichzeitig darzustellen, wenn er also seinen Gegenstand in demselben Augenblicke
vou der Vogelperspective aus betrachte« will, wo er ihn mit dem Mikroskop unter¬
sucht, so geht daraus hewor, daß er weder die eine uoch die andere seiner Auf¬
gaben erfüllt; die ideelle Anschauung wird durch die Fülle des Details überwuchert,
und das Detail wird durch die willkürliche Beleuchtung verfälscht.


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[0171] S h e S l e y. Die neueste englische Literatur bietet uns, wenn wir von einzelnen Ausnah¬ men, namentlich Dickens, absehen, ein Schauspiel, welches wohl geeignet ist, unsre gewöhnlichen Begriffe von dem klaren natürlichen Gefühl und dem gefunden Menschenverstand des britischen Volks über den Haufen zu werfen. Eine ganze Reihe von Schriftstellern, zum Theil mit bedeutendem Talent ausgestattet, Earlyle, Bailey, Browning, Tennyson, Taylor, Thackcray, Kiugsley u. s. w. — wetteifern mit einander, uns die Kehrseite des menschlichen Lebeus, die geheim- nißvollen Abnormitäten des menschlichen Herzens darzustellen, und zwar in einer Form, die durch ihr trübes, phantastisches, unklares Wesen, durch ihre beständigen Sprünge aus dem Erhabenen ins Barocke auffallend an ähnliche Erscheinungen der deutscheu Literatur erinnert. Es ist keineswegs das Behagen am Gemeinen und Häßlichen, das ihre Richtung bestimmt, im Gegentheil ein unendlich gestei¬ gerter, hochfliegender Idealismus, der in seinem vergeblichen Ringen nach wirklicher Gestaltung sich endlich mit Trauer und Zorn darauf resignirt, eine allgemeine wüste Oede zu beleuchten, in der nur das vorhanden ist, was nicht sein soll. Der Weltschmerz, jener ungesunde Ausfluß unsrer überreizten Einbildungskraft, scheint sich jetzt in der englischem Literatur festsetzen zu wolle», uur daß es die Engländer nach ihrer Gewohnheit gründlicher und gewissenhafter treiben, als wir. Derselbe Grund, aus dem wir die Häßlichkeit des Inhalts erklären müssen, bedingt auch die Seltsamkeit der Form. Nicht aus Gleichgiltigkeit oder Gering- schätzung der Kunst, sondern ans einem zu hochfliegenden Begriff vou der Kunst werden alle bisher anerkannten Gesetze der künstlerischen Composition bei Seite ge¬ worfen. Wenn z. B. Carlyle in seiner Geschichte der französischen Revolution versucht, deu ideellen und den endlichen, empirischen Zusammenhang der Ereignisse gleichzeitig darzustellen, wenn er also seinen Gegenstand in demselben Augenblicke vou der Vogelperspective aus betrachte« will, wo er ihn mit dem Mikroskop unter¬ sucht, so geht daraus hewor, daß er weder die eine uoch die andere seiner Auf¬ gaben erfüllt; die ideelle Anschauung wird durch die Fülle des Details überwuchert, und das Detail wird durch die willkürliche Beleuchtung verfälscht. Grenzboten. I. I8ö2. ^ 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/171>, abgerufen am 28.04.2024.