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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Dieser phantastische Idealismus ist in der englischen Literatur keineswegs
etwas vollständig Neues. Neben den Schriftstellern, die ihren Weg ins
Ausland fanden und uus das heitere Bild eiues uuverkümmerten Denkens und
Empfindens überlieferten, haben sich immer einige begabte Geister auf einen
Seitenpfad verloren, und mau könnte auch in diesen Irrwegen einen gewissen
Zusammenhang herausfinden, wenn es nicht eine undankbare Mühe wäre, das
Gesetz für die Gesetzlosigkeit aufzusuchen. Einer der älteren Vorgänger dieser
neuen Romantik, den man als ihr allgemeines Vorbild betrachten kann, verdient
es, daß wir ihn näher ins'Auge fassen. Es ist Shelley. Mit der Wiederauf¬
nahme seiner geistigen Richtung ist auch sein Name wieder zu Ehren gekommen,
nud es findet sich eine nicht geringe Zahl von Verehrern, die ihn mit Shake¬
speare zusammenstellen, und ihn als eiuen der größten englischen Dichter feiern. Wie
der folgende Ueberblick ergeben wird, ist es uicht die künstlerische Vollendung irgend
eines seiner Werke, ans die sich dieses Urtheil stützt, sondern lediglich seine Tendenz.

Shelley ist sehr jung gestorben; er war erst 31 Jahre alt, als er 1823
auf einer Seefahrt in Italien ertrank. Bei der ^gewöhnlichen Aufstellung von
Möglichkeiten konnte man also annehmen, daß seine spätere Ausbildung die Un-
vollkommenheit seiner Leistungen ergänzt haben würde; allein es liegt in seiner
Form wie in seinem Inhalt bereits so viel Fertiges und Abgeschlossenes, daß
man dieser Annahme kaum beipflichten kann.

Die eigentliche Periode seines dichterischen Wirkens fällt in die Jahre
1^17--1822, also in die Blüthenzeit von Waller Scott, Byron und Moore.
Mit Byron war er befreundet. Moore, der zwar seine politische Gesinnung im
Ganzen theilte, war gegen seine religiöse Freigeisterei eingenommen, doch ehrte er
in ihm die große Begabung. Alle drei standen in einer entschiedenen Opposition
gegen die herrschende Gesellschaft; während aber Byron seinem Haß gegen dieselbe
einen männlichen und energischen Ausdruck lieh, entzog sich Shelley ihrem verhaßten
Allblick durch eine Flucht ins Reich der Träume. In der Theorie ein rücksichts¬
loser Revolutionär, -- zum Theil wirkte dazu der schreckliche Druck mit, den er
in seiner Jugend von seiner eigenen Familie erfahren -- war er in der Wirklich¬
keit eine zarte, sinnige Natur, mehr geneigt, in Gefühlen zu schweige", als mit
ernster, unverdrossener Ausdauer gegen das Schlechte anzukämpfen. Die Schwingen
seiner Muse sind so zart, daß man immer fürchten muß, sie werde sie durch irgend
eine irdische Berührung zerstören. Sie hält sich daher auch am liebste" im Reich
der Lüste, und wenn sie einmal eine reale, irdische Anschauung zu haben
glaubt, so ist es doch immer mir eine phantastische Fata Morgana, die verschwin¬
det, sobald man sich ihr nähert.

Ehe wir auf die allgemeine Charakteristik seines Talents eingehen, betrachten
wir zuerst im Einzelnen die bedeutendsten seiner Werke. ES sind die Cenci, die
Empörung des Islam und der entfesselte Prometheus.


Dieser phantastische Idealismus ist in der englischen Literatur keineswegs
etwas vollständig Neues. Neben den Schriftstellern, die ihren Weg ins
Ausland fanden und uus das heitere Bild eiues uuverkümmerten Denkens und
Empfindens überlieferten, haben sich immer einige begabte Geister auf einen
Seitenpfad verloren, und mau könnte auch in diesen Irrwegen einen gewissen
Zusammenhang herausfinden, wenn es nicht eine undankbare Mühe wäre, das
Gesetz für die Gesetzlosigkeit aufzusuchen. Einer der älteren Vorgänger dieser
neuen Romantik, den man als ihr allgemeines Vorbild betrachten kann, verdient
es, daß wir ihn näher ins'Auge fassen. Es ist Shelley. Mit der Wiederauf¬
nahme seiner geistigen Richtung ist auch sein Name wieder zu Ehren gekommen,
nud es findet sich eine nicht geringe Zahl von Verehrern, die ihn mit Shake¬
speare zusammenstellen, und ihn als eiuen der größten englischen Dichter feiern. Wie
der folgende Ueberblick ergeben wird, ist es uicht die künstlerische Vollendung irgend
eines seiner Werke, ans die sich dieses Urtheil stützt, sondern lediglich seine Tendenz.

Shelley ist sehr jung gestorben; er war erst 31 Jahre alt, als er 1823
auf einer Seefahrt in Italien ertrank. Bei der ^gewöhnlichen Aufstellung von
Möglichkeiten konnte man also annehmen, daß seine spätere Ausbildung die Un-
vollkommenheit seiner Leistungen ergänzt haben würde; allein es liegt in seiner
Form wie in seinem Inhalt bereits so viel Fertiges und Abgeschlossenes, daß
man dieser Annahme kaum beipflichten kann.

Die eigentliche Periode seines dichterischen Wirkens fällt in die Jahre
1^17—1822, also in die Blüthenzeit von Waller Scott, Byron und Moore.
Mit Byron war er befreundet. Moore, der zwar seine politische Gesinnung im
Ganzen theilte, war gegen seine religiöse Freigeisterei eingenommen, doch ehrte er
in ihm die große Begabung. Alle drei standen in einer entschiedenen Opposition
gegen die herrschende Gesellschaft; während aber Byron seinem Haß gegen dieselbe
einen männlichen und energischen Ausdruck lieh, entzog sich Shelley ihrem verhaßten
Allblick durch eine Flucht ins Reich der Träume. In der Theorie ein rücksichts¬
loser Revolutionär, — zum Theil wirkte dazu der schreckliche Druck mit, den er
in seiner Jugend von seiner eigenen Familie erfahren — war er in der Wirklich¬
keit eine zarte, sinnige Natur, mehr geneigt, in Gefühlen zu schweige», als mit
ernster, unverdrossener Ausdauer gegen das Schlechte anzukämpfen. Die Schwingen
seiner Muse sind so zart, daß man immer fürchten muß, sie werde sie durch irgend
eine irdische Berührung zerstören. Sie hält sich daher auch am liebste« im Reich
der Lüste, und wenn sie einmal eine reale, irdische Anschauung zu haben
glaubt, so ist es doch immer mir eine phantastische Fata Morgana, die verschwin¬
det, sobald man sich ihr nähert.

Ehe wir auf die allgemeine Charakteristik seines Talents eingehen, betrachten
wir zuerst im Einzelnen die bedeutendsten seiner Werke. ES sind die Cenci, die
Empörung des Islam und der entfesselte Prometheus.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/172>, abgerufen am 12.05.2024.