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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Deutscher T r o se.

Nehmen wir einen traurigen Fall an. Ein Mann schläft in irgend einem
heißen Lande, z. B. in Bengalen, unter einem Palmbaum. Sofort kommt ein
furchtbarer Löwe, packt den Schlafenden im Nachen und trägt ihn fort nach einer
Felsschlucht, in das gemüthliche Stillleben der Löwenfamilie. Natürlich wird der
unglückliche Gefangene sich fruchtlos zu befreien suchen, und zunächst daran denken.
Da aber gerade in den größten Schauermomenten der menschliche Geist zuweilen mit
einer merkwürdigen Freiheit die unbehagliche Situation übersieht, so ist sehr möglich,
daß auch dem Gefangenen im Rachen des Löwen außer der Todesangst noch eine
Kette von Nebenvorstellungen durch den Kopf läuft. Diese Nebenvorstellungen,
welche gleich Blitzen die grausige Nacht seiner Seele durchzucken, werden verschieden
sein, je nachdem er ein Engländer, ein Franzose, oder ein Deutscher ist. Ist der
Mann in kritischer Lage ein Engländer, so wird er sich noch schnell sagen: das
muß die Regierung Ihrer Majestät, das muß Lord Palmerston erfahren, damit
Alt-England an dem verdammten Löwen Rache nimmt, dnrch Noten, durch eine
Flotte, durch Blokade, und Todtschießen. Ist er ein Franzose, so wird er denken:
Gemeiner Tod! Ich werde eine erbärmliche Situation haben, wenn ich sterbe;
es ist gar kein Effect dabei möglich. Und ist der gefährdete Mann ein Deutscher,
so ist es sehr wahrscheinlich, daß er sich mitten in seinem Kummer sagen wird:
Es ist nur ein Glück, daß das Beche kein Tiger ist, denn Tiger sind noch viel
grausamer.

Reflexionen, wie die letzte, nennen unsre Nachbarn, die Franzosen, Engländer
nud Russen, "deutschen Trost", und besonders die Franzosen verspotten uns
deshalb. Es ist wahr, die Fähigkeit, jede bedenkliche Lage dadurch genießbar zu
machen, daß wir ihr eine noch schlimmere gegenüber stellen, hat uns eine gewisse
Virtuosität im Ertragen von unangenehmen Dingen gegeben. Und bei Einzel¬
nen, wie bei der ganzen Nation ist dies allerdings eine Tugend von zweifel¬
haftem Werthe. Indeß mögen unsre lieben Nachbarn und Freunde jenseits des
Rheins und unsre nicht weniger geliebten Nachbarn und Freunde im Osten von
Deutschland uns noch verzeihen, wenn wir diese Methode, uns über Unannehm-
lichkeiten zu trösten, gerade jetzt anwenden, und indem wir unsre Situation mit
der ihrigen vergleichen, einen deutschen Trost darin finden, daß es bei uus zwar
nicht gut, aber immerhin viel besser steht, als bei ihnen. Selbst unsre Vettern in
England werden uus nicht zürnen, wenn wir unsre Methode ihnen gegenüber
nicht aufgeben, und so oft wir bedauern, nicht stark zu sein, wie England, uns
auch freuen, daß wir kein Irland zu verantworten haben.

Der Deutsche war seit langer Zeit gewöhnt, seine Nachbarschaft im Osten als ein
zwar sehr wohlwollendes und patriarchalisches, nichts desto weniger aber zuweilen


34*
Deutscher T r o se.

Nehmen wir einen traurigen Fall an. Ein Mann schläft in irgend einem
heißen Lande, z. B. in Bengalen, unter einem Palmbaum. Sofort kommt ein
furchtbarer Löwe, packt den Schlafenden im Nachen und trägt ihn fort nach einer
Felsschlucht, in das gemüthliche Stillleben der Löwenfamilie. Natürlich wird der
unglückliche Gefangene sich fruchtlos zu befreien suchen, und zunächst daran denken.
Da aber gerade in den größten Schauermomenten der menschliche Geist zuweilen mit
einer merkwürdigen Freiheit die unbehagliche Situation übersieht, so ist sehr möglich,
daß auch dem Gefangenen im Rachen des Löwen außer der Todesangst noch eine
Kette von Nebenvorstellungen durch den Kopf läuft. Diese Nebenvorstellungen,
welche gleich Blitzen die grausige Nacht seiner Seele durchzucken, werden verschieden
sein, je nachdem er ein Engländer, ein Franzose, oder ein Deutscher ist. Ist der
Mann in kritischer Lage ein Engländer, so wird er sich noch schnell sagen: das
muß die Regierung Ihrer Majestät, das muß Lord Palmerston erfahren, damit
Alt-England an dem verdammten Löwen Rache nimmt, dnrch Noten, durch eine
Flotte, durch Blokade, und Todtschießen. Ist er ein Franzose, so wird er denken:
Gemeiner Tod! Ich werde eine erbärmliche Situation haben, wenn ich sterbe;
es ist gar kein Effect dabei möglich. Und ist der gefährdete Mann ein Deutscher,
so ist es sehr wahrscheinlich, daß er sich mitten in seinem Kummer sagen wird:
Es ist nur ein Glück, daß das Beche kein Tiger ist, denn Tiger sind noch viel
grausamer.

Reflexionen, wie die letzte, nennen unsre Nachbarn, die Franzosen, Engländer
nud Russen, „deutschen Trost", und besonders die Franzosen verspotten uns
deshalb. Es ist wahr, die Fähigkeit, jede bedenkliche Lage dadurch genießbar zu
machen, daß wir ihr eine noch schlimmere gegenüber stellen, hat uns eine gewisse
Virtuosität im Ertragen von unangenehmen Dingen gegeben. Und bei Einzel¬
nen, wie bei der ganzen Nation ist dies allerdings eine Tugend von zweifel¬
haftem Werthe. Indeß mögen unsre lieben Nachbarn und Freunde jenseits des
Rheins und unsre nicht weniger geliebten Nachbarn und Freunde im Osten von
Deutschland uns noch verzeihen, wenn wir diese Methode, uns über Unannehm-
lichkeiten zu trösten, gerade jetzt anwenden, und indem wir unsre Situation mit
der ihrigen vergleichen, einen deutschen Trost darin finden, daß es bei uus zwar
nicht gut, aber immerhin viel besser steht, als bei ihnen. Selbst unsre Vettern in
England werden uus nicht zürnen, wenn wir unsre Methode ihnen gegenüber
nicht aufgeben, und so oft wir bedauern, nicht stark zu sein, wie England, uns
auch freuen, daß wir kein Irland zu verantworten haben.

Der Deutsche war seit langer Zeit gewöhnt, seine Nachbarschaft im Osten als ein
zwar sehr wohlwollendes und patriarchalisches, nichts desto weniger aber zuweilen


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[0277] Deutscher T r o se. Nehmen wir einen traurigen Fall an. Ein Mann schläft in irgend einem heißen Lande, z. B. in Bengalen, unter einem Palmbaum. Sofort kommt ein furchtbarer Löwe, packt den Schlafenden im Nachen und trägt ihn fort nach einer Felsschlucht, in das gemüthliche Stillleben der Löwenfamilie. Natürlich wird der unglückliche Gefangene sich fruchtlos zu befreien suchen, und zunächst daran denken. Da aber gerade in den größten Schauermomenten der menschliche Geist zuweilen mit einer merkwürdigen Freiheit die unbehagliche Situation übersieht, so ist sehr möglich, daß auch dem Gefangenen im Rachen des Löwen außer der Todesangst noch eine Kette von Nebenvorstellungen durch den Kopf läuft. Diese Nebenvorstellungen, welche gleich Blitzen die grausige Nacht seiner Seele durchzucken, werden verschieden sein, je nachdem er ein Engländer, ein Franzose, oder ein Deutscher ist. Ist der Mann in kritischer Lage ein Engländer, so wird er sich noch schnell sagen: das muß die Regierung Ihrer Majestät, das muß Lord Palmerston erfahren, damit Alt-England an dem verdammten Löwen Rache nimmt, dnrch Noten, durch eine Flotte, durch Blokade, und Todtschießen. Ist er ein Franzose, so wird er denken: Gemeiner Tod! Ich werde eine erbärmliche Situation haben, wenn ich sterbe; es ist gar kein Effect dabei möglich. Und ist der gefährdete Mann ein Deutscher, so ist es sehr wahrscheinlich, daß er sich mitten in seinem Kummer sagen wird: Es ist nur ein Glück, daß das Beche kein Tiger ist, denn Tiger sind noch viel grausamer. Reflexionen, wie die letzte, nennen unsre Nachbarn, die Franzosen, Engländer nud Russen, „deutschen Trost", und besonders die Franzosen verspotten uns deshalb. Es ist wahr, die Fähigkeit, jede bedenkliche Lage dadurch genießbar zu machen, daß wir ihr eine noch schlimmere gegenüber stellen, hat uns eine gewisse Virtuosität im Ertragen von unangenehmen Dingen gegeben. Und bei Einzel¬ nen, wie bei der ganzen Nation ist dies allerdings eine Tugend von zweifel¬ haftem Werthe. Indeß mögen unsre lieben Nachbarn und Freunde jenseits des Rheins und unsre nicht weniger geliebten Nachbarn und Freunde im Osten von Deutschland uns noch verzeihen, wenn wir diese Methode, uns über Unannehm- lichkeiten zu trösten, gerade jetzt anwenden, und indem wir unsre Situation mit der ihrigen vergleichen, einen deutschen Trost darin finden, daß es bei uus zwar nicht gut, aber immerhin viel besser steht, als bei ihnen. Selbst unsre Vettern in England werden uus nicht zürnen, wenn wir unsre Methode ihnen gegenüber nicht aufgeben, und so oft wir bedauern, nicht stark zu sein, wie England, uns auch freuen, daß wir kein Irland zu verantworten haben. Der Deutsche war seit langer Zeit gewöhnt, seine Nachbarschaft im Osten als ein zwar sehr wohlwollendes und patriarchalisches, nichts desto weniger aber zuweilen 34*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/277>, abgerufen am 28.04.2024.