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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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ein wenig willkürliches und gesetzloses Regiment zu achten; seine Nachbarschaft in
Westen aber als ein etwas zu unruhiges und launisches, jedoch aber sehr freies
und angenehmes Volk zu verehren, und seinen eigenen Zustand als eine Art von
mittlerem Durchschnitt zwischen russischer Väterlichkeit und französischer Freiheit
kritisch zu beurtheilen. Das ist jetzt unmöglich geworden. Es ist Deutschen
ganz unmöglich, uoch zu sagen: bei den Franzosen lebt man zwar freier als bei
uns, aber bei uns lebt man noch viel freier als bei den Russen. Alle unsre
Logik wird über den Haufen geworfen , unsre politische Weltstellung ist radical
verändert. Wir, die wir vor Kurzem uoch die mittlere Proportionale zwischen
Nußland und dem Westen waren, wir Centrummänner des europäischen Conti-
nents, welche vou beiden Nachbarn als Halbe angefeindet wurden, wir sind jetzt
auf einmal freier, gesetzvoller, glücklicher, ja wir sind unendlich weiter avan-
cirt, als die Franzosen. Unsre Regierungen bestehen aus radicalen Freiheitsmän¬
nern, ja aus antiken, republikanischen Charakteren. Unsre Presse ist zügellos frei
geworden. Unsre Volksvertretungen sind mit wahrhaft souverainer demokratischer
Macht bekleidet, unser Privateigenthum, Felder und Wälder, Häuser und Actien
haben eine übermenschliche gesetzliche Sicherheit, gewissermaßen eine ewige Dauer
erhalten. Alles natürlich vergleichsweise, und zwar im Vergleich mit Frankreich. Diese
merkwürdige Veränderung unsrer Stellung verdanken wir der kurzen, aber außer¬
ordentlich ehrenwerthen Thätigkeit von Monseigneur le Prince Louis Napoleon.
Da uns die Franzosen so lange und so bitter unsren deutschen Trost vorgeworfen haben,
werden sie es angemessen finden, wenn wir jetzt mit dem uns eigenen bescheidenen
Ernst und ohne jede Spur von Schadenfreude sagen: wir sind uicht kolossale
Charaktere, wir sind zuweilen ungeschickt und unpraktisch, aber wir schießen nicht
die Häuser zusammen, wo Freunde wohnen, die uus compromittiren konnten, wir
todten unsre Feinde nicht durch Piperin, wir consisciren nicht die Güter Unschul¬
diger; wir sind noch nicht immer weise Staatsmänner, aber wir sind auch keine
Borgias.

Vielleicht hat uns gerade der Grundzug unsres Wesens, der uns den "deut¬
schen Trost" in schlechten Lagen an die Hand gab, auch davor bewahrt, in die
schlechtesten Lagen zu kommen. Denn der Grundzug im Wesen des Deutschen ist
seine wunderbare Fähigkeit, die gemüthlichen Ideale, die er gerade hat, in aller¬
liebster Träumerei festzuhalten, und sich jede Lage und Umgebung damit zu schmücken;
er hat deshalb das Bedürfniß, im Frieden zu sein mit seiner Umgebung; und die Freund¬
lichkeit und das Wohlwollen, welche er in sich trägt, auch wieder zu erfahren. Das
macht ihn in allen Lagen rücksichtsvoll gegen Andere, und erhält; ihn auch da
genügsam und in den Schranken des Gesetzes, wo die Versuchung zu Selbst¬
überhebung, Tyrannei und straflosem Frevel nahe liegt. Auch in Deutschland ist
bei den großen Versuchungen, welche unsre politischen Verhältnisse darboten, von
Fürsten und Völkern viel gegen Recht und Gesetz gefehlt worden, aber fast nie


ein wenig willkürliches und gesetzloses Regiment zu achten; seine Nachbarschaft in
Westen aber als ein etwas zu unruhiges und launisches, jedoch aber sehr freies
und angenehmes Volk zu verehren, und seinen eigenen Zustand als eine Art von
mittlerem Durchschnitt zwischen russischer Väterlichkeit und französischer Freiheit
kritisch zu beurtheilen. Das ist jetzt unmöglich geworden. Es ist Deutschen
ganz unmöglich, uoch zu sagen: bei den Franzosen lebt man zwar freier als bei
uns, aber bei uns lebt man noch viel freier als bei den Russen. Alle unsre
Logik wird über den Haufen geworfen , unsre politische Weltstellung ist radical
verändert. Wir, die wir vor Kurzem uoch die mittlere Proportionale zwischen
Nußland und dem Westen waren, wir Centrummänner des europäischen Conti-
nents, welche vou beiden Nachbarn als Halbe angefeindet wurden, wir sind jetzt
auf einmal freier, gesetzvoller, glücklicher, ja wir sind unendlich weiter avan-
cirt, als die Franzosen. Unsre Regierungen bestehen aus radicalen Freiheitsmän¬
nern, ja aus antiken, republikanischen Charakteren. Unsre Presse ist zügellos frei
geworden. Unsre Volksvertretungen sind mit wahrhaft souverainer demokratischer
Macht bekleidet, unser Privateigenthum, Felder und Wälder, Häuser und Actien
haben eine übermenschliche gesetzliche Sicherheit, gewissermaßen eine ewige Dauer
erhalten. Alles natürlich vergleichsweise, und zwar im Vergleich mit Frankreich. Diese
merkwürdige Veränderung unsrer Stellung verdanken wir der kurzen, aber außer¬
ordentlich ehrenwerthen Thätigkeit von Monseigneur le Prince Louis Napoleon.
Da uns die Franzosen so lange und so bitter unsren deutschen Trost vorgeworfen haben,
werden sie es angemessen finden, wenn wir jetzt mit dem uns eigenen bescheidenen
Ernst und ohne jede Spur von Schadenfreude sagen: wir sind uicht kolossale
Charaktere, wir sind zuweilen ungeschickt und unpraktisch, aber wir schießen nicht
die Häuser zusammen, wo Freunde wohnen, die uus compromittiren konnten, wir
todten unsre Feinde nicht durch Piperin, wir consisciren nicht die Güter Unschul¬
diger; wir sind noch nicht immer weise Staatsmänner, aber wir sind auch keine
Borgias.

Vielleicht hat uns gerade der Grundzug unsres Wesens, der uns den „deut¬
schen Trost" in schlechten Lagen an die Hand gab, auch davor bewahrt, in die
schlechtesten Lagen zu kommen. Denn der Grundzug im Wesen des Deutschen ist
seine wunderbare Fähigkeit, die gemüthlichen Ideale, die er gerade hat, in aller¬
liebster Träumerei festzuhalten, und sich jede Lage und Umgebung damit zu schmücken;
er hat deshalb das Bedürfniß, im Frieden zu sein mit seiner Umgebung; und die Freund¬
lichkeit und das Wohlwollen, welche er in sich trägt, auch wieder zu erfahren. Das
macht ihn in allen Lagen rücksichtsvoll gegen Andere, und erhält; ihn auch da
genügsam und in den Schranken des Gesetzes, wo die Versuchung zu Selbst¬
überhebung, Tyrannei und straflosem Frevel nahe liegt. Auch in Deutschland ist
bei den großen Versuchungen, welche unsre politischen Verhältnisse darboten, von
Fürsten und Völkern viel gegen Recht und Gesetz gefehlt worden, aber fast nie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/278>, abgerufen am 12.05.2024.