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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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liegt in ihrem ganzen Wesen." Obwol Goethe öfter durch leidenschaftliche Auf¬
wallungen bewies, daß er sich nicht immer auf die Schwärmerei der Freundschaft
beschränken konnte, so hat er doch niemals von ihr verlangt, der Welt und der
Sitte zum Trotz, ihre langjährige Ehe zu trennen; wie Adolph Stahr es ihr
dennoch als Verbrechen anrechnen kann, dies nicht gethan zu haben, ist wirklich
unbegreiflich. Er geht sogar soweit, die edle Frau zu beschuldigen, sie Habenach
dem Tode ihres Gemahls, also schon im sunzigsten Jahre, den thörichten Wunsch
gehegt, noch von Goethe zum Altare geführt zu werden, und als dies nicht gelun¬
gen, habe sie aus Rache ihre Briefe zurückgefordert. Die erste Beschuldigung
wird hinreichend durch das ganze würdevolle Leben der Frau von Stein wider¬
legt, was aber die Rückforderung der Briefe betrifft, so geschah diese fast 3öJahr
später, und wurde sicherlich nur durch die Befürchtung veranlaßt, daß ihre in¬
nersten Empfindungen und Gedanken nach dem Tode der Oeffentlichkeit preisge¬
geben würden, ein Schicksal, das dem weiblichen Zartgefühl unerträglich erschei¬
nen muß, und nur der raffinirtesten Eitelkeit wünschenswerth sein kaun. Sie
vernichtete übrigens nur ihre eigenen Briefe; von Goethe hat sie mit rührender
Sorgfalt jedes Zettelchen aufbewahrt. Sie gab dadurch den Beweis, wie hoch
sie das Recht der Nachwelt achtete, diese Dokumente aus der Lebensgeschichte
des großen Dichters zu besitzen. Um dieselbe zu vervollständigen, mußte sich
bald eine berufene Hand mit genauerer Ausführung des Bildes der deutschen
Laura beschäftigen, die so eugvcrwebt mit Goethe's Leben, weA sie seine edelste
Liebe War.




Neueste englische Literatur.
Philipp Balle y.
Geboren -18-1K.

Das durch die Erschütterung des bisherigen Glaubens verwirrte Gemüth
Macht sich bei den neuesten, englischen Dichtern nach zwei Seiten hin Luft, aus
der einen durch eine mikroskopische Untersuchung der Schattenseiten des menschli¬
chen Herzens und der menschlichen Gesellschaft, die mit ihrem Pessimismus und
ihrem psychologischen Raffinement sehr stark ein die frühern zahlreichen Pietistischen
Secten erinnert, auf der andern durch einen hochfliegenden Idealismus, der die
Räthsel des Lebens durch phantastische Visionen zu lösen sucht. Mit dem letztern
haben wir es heute zu thun. Wir finden in ihm den Einfluß Shelley's und
der deutschen Dichter, der um so anhaltender zu sein scheint, je heftiger sich zu¬
erst das natürliche Gefühl des englischen Volks dagegen sträubte.

Die Reaction, welche zu Shelley's Zeit nur bei einigen besonders begabten

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liegt in ihrem ganzen Wesen." Obwol Goethe öfter durch leidenschaftliche Auf¬
wallungen bewies, daß er sich nicht immer auf die Schwärmerei der Freundschaft
beschränken konnte, so hat er doch niemals von ihr verlangt, der Welt und der
Sitte zum Trotz, ihre langjährige Ehe zu trennen; wie Adolph Stahr es ihr
dennoch als Verbrechen anrechnen kann, dies nicht gethan zu haben, ist wirklich
unbegreiflich. Er geht sogar soweit, die edle Frau zu beschuldigen, sie Habenach
dem Tode ihres Gemahls, also schon im sunzigsten Jahre, den thörichten Wunsch
gehegt, noch von Goethe zum Altare geführt zu werden, und als dies nicht gelun¬
gen, habe sie aus Rache ihre Briefe zurückgefordert. Die erste Beschuldigung
wird hinreichend durch das ganze würdevolle Leben der Frau von Stein wider¬
legt, was aber die Rückforderung der Briefe betrifft, so geschah diese fast 3öJahr
später, und wurde sicherlich nur durch die Befürchtung veranlaßt, daß ihre in¬
nersten Empfindungen und Gedanken nach dem Tode der Oeffentlichkeit preisge¬
geben würden, ein Schicksal, das dem weiblichen Zartgefühl unerträglich erschei¬
nen muß, und nur der raffinirtesten Eitelkeit wünschenswerth sein kaun. Sie
vernichtete übrigens nur ihre eigenen Briefe; von Goethe hat sie mit rührender
Sorgfalt jedes Zettelchen aufbewahrt. Sie gab dadurch den Beweis, wie hoch
sie das Recht der Nachwelt achtete, diese Dokumente aus der Lebensgeschichte
des großen Dichters zu besitzen. Um dieselbe zu vervollständigen, mußte sich
bald eine berufene Hand mit genauerer Ausführung des Bildes der deutschen
Laura beschäftigen, die so eugvcrwebt mit Goethe's Leben, weA sie seine edelste
Liebe War.




Neueste englische Literatur.
Philipp Balle y.
Geboren -18-1K.

Das durch die Erschütterung des bisherigen Glaubens verwirrte Gemüth
Macht sich bei den neuesten, englischen Dichtern nach zwei Seiten hin Luft, aus
der einen durch eine mikroskopische Untersuchung der Schattenseiten des menschli¬
chen Herzens und der menschlichen Gesellschaft, die mit ihrem Pessimismus und
ihrem psychologischen Raffinement sehr stark ein die frühern zahlreichen Pietistischen
Secten erinnert, auf der andern durch einen hochfliegenden Idealismus, der die
Räthsel des Lebens durch phantastische Visionen zu lösen sucht. Mit dem letztern
haben wir es heute zu thun. Wir finden in ihm den Einfluß Shelley's und
der deutschen Dichter, der um so anhaltender zu sein scheint, je heftiger sich zu¬
erst das natürliche Gefühl des englischen Volks dagegen sträubte.

Die Reaction, welche zu Shelley's Zeit nur bei einigen besonders begabten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/395>, abgerufen am 07.05.2024.