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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Verruchtheit seines Gefangenwärters zu zweifeln. Man wird sich doch wol an
die leidenschaftlichen Declamationen erinnern, mit denen Heine dieses neue Evan¬
gelium des Schmerzes der Welt verkündete. Wenn man genauer zusieht, so wird
sich von dieser Tragik vieles verlieren. An sich bleibt der Gedanke freilich immer
sehr tragisch, deu mächtigsten Geist des Jahrhunderts an einen wüsten Felsen
des atlantischen Oceans gekettet zu sehen; allein weiter ins einzelne muß mau
nicht gehen, sonst wird aus dem Halbgott ein Mensch, und zwar ein recht
kleiner Mensch. Um sich in seiner vollen Gewalt zu entwickeln, hatte Na¬
poleon große Verhältnisse nöthig. Seine Kraft war so gigantisch, daß sie sich
nur mit der vergleichen läßt, welche die römische Geschichte entwickelte. Aber ihm
fehlte der Adel des Schmerzes und der Entsagung. Die fortwährenden Streitig¬
keiten, die er mit dem Gouverneur von Se. Helena über die Rang- und Etiquette¬
srage, über die Portionen für seinen Tisch und die Zahl der Weinflaschen und
dergleichen anfing, sind sehr armselig und kleinlich. Es fehlte Napoleon alle
Majestät des Unglücks; er war wie ein bankrotter Spieler, der nun in kleinen
Legalitäten noch einmal die alte Geltung in Anspruch nehmen will, deren er sich
früher in den glänzendsten Cirkeln erfreute. -- Daß durch diese Betrachtungen
die englische Regierung, die ein so kleinliches System von Unterdrückungen an¬
wenden zu müssen glaubte, um den Frieden Europas zu sichern, uicht entschuldigt
werden soll, versteht sich von selbst. Ihr Werkzeug könne" wir bedauern, denn
täglich den Launen und Einfällen deö leidenschaftlichsten aller Menschen ausgesetzt
zu sein und dabei von jedem Schritt der eigenen Regierung Rechenschaft geben
zu müssen, das ist eine höchst traurige und undankbare Lage, aus welcher der
beste Mensch sich nicht mit gutem Anstand hätte entwickeln können, und daß bei
Sir Hudson Löwe viel daran fehlte, leuchtet uns auch ans dem gegenwärtigen Bericht
hervor, ans den wir uoch einmal zurückkommen, sobald er vollendet sein wird.


I^ouis XVII., sa ol", son gßlznio, si> mori.; LiipUvilä <Je I" t'<in>i!Je rü^nie im Jon>it>z.
OuvrnF" enrielii ä'alltoFrapK^, tlo i>in'ir"ils vt cke pi-in". I'ur AI. ^. >I e vvuu-
okosniz. 2. Lat. vruxvllvs Le I-oiMA, Xivsslinß Koll>i>.

Auch in diesem Buche haben wir, wie in dem vorhergehenden, die Geschichte
einer fürstlichen Gefangenschaft, die ihrer Zeit mit Recht die allgemeine Theilnahme
Europas auf sich gezogen hat. Der unglückliche Knabe, an dem die Sünden
seiner Vorfahren so schrecklich gebüßt wurde", hat nichts in sich, was die innige
Theilnahme, die man dem Unglück schuldig ist, schmälern könnte. We"" es um"
auf den ersten Anblick auch etwas stark erscheint, von dem kurze", einförmige" und
traurigen Leben dieses Prinzen zwei starke Bände anzufüllen, so'schwindet dieses
Bedenken, wenn man dieses Werk als eine Sammlung von Ackerstücken z"r Kennt¬
niß einer der merkwürdigsten Cnlturperiode" betrachtet. Die Erzählung ist so
ausführlich, und die hinzugefügten Documente, z. B. eine ganze Reihe lithogra-


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Verruchtheit seines Gefangenwärters zu zweifeln. Man wird sich doch wol an
die leidenschaftlichen Declamationen erinnern, mit denen Heine dieses neue Evan¬
gelium des Schmerzes der Welt verkündete. Wenn man genauer zusieht, so wird
sich von dieser Tragik vieles verlieren. An sich bleibt der Gedanke freilich immer
sehr tragisch, deu mächtigsten Geist des Jahrhunderts an einen wüsten Felsen
des atlantischen Oceans gekettet zu sehen; allein weiter ins einzelne muß mau
nicht gehen, sonst wird aus dem Halbgott ein Mensch, und zwar ein recht
kleiner Mensch. Um sich in seiner vollen Gewalt zu entwickeln, hatte Na¬
poleon große Verhältnisse nöthig. Seine Kraft war so gigantisch, daß sie sich
nur mit der vergleichen läßt, welche die römische Geschichte entwickelte. Aber ihm
fehlte der Adel des Schmerzes und der Entsagung. Die fortwährenden Streitig¬
keiten, die er mit dem Gouverneur von Se. Helena über die Rang- und Etiquette¬
srage, über die Portionen für seinen Tisch und die Zahl der Weinflaschen und
dergleichen anfing, sind sehr armselig und kleinlich. Es fehlte Napoleon alle
Majestät des Unglücks; er war wie ein bankrotter Spieler, der nun in kleinen
Legalitäten noch einmal die alte Geltung in Anspruch nehmen will, deren er sich
früher in den glänzendsten Cirkeln erfreute. — Daß durch diese Betrachtungen
die englische Regierung, die ein so kleinliches System von Unterdrückungen an¬
wenden zu müssen glaubte, um den Frieden Europas zu sichern, uicht entschuldigt
werden soll, versteht sich von selbst. Ihr Werkzeug könne» wir bedauern, denn
täglich den Launen und Einfällen deö leidenschaftlichsten aller Menschen ausgesetzt
zu sein und dabei von jedem Schritt der eigenen Regierung Rechenschaft geben
zu müssen, das ist eine höchst traurige und undankbare Lage, aus welcher der
beste Mensch sich nicht mit gutem Anstand hätte entwickeln können, und daß bei
Sir Hudson Löwe viel daran fehlte, leuchtet uns auch ans dem gegenwärtigen Bericht
hervor, ans den wir uoch einmal zurückkommen, sobald er vollendet sein wird.


I^ouis XVII., sa ol«, son gßlznio, si> mori.; LiipUvilä <Je I» t'<in>i!Je rü^nie im Jon>it>z.
OuvrnF« enrielii ä'alltoFrapK^, tlo i>in'ir»ils vt cke pi-in«. I'ur AI. ^. >I e vvuu-
okosniz. 2. Lat. vruxvllvs Le I-oiMA, Xivsslinß Koll>i>.

Auch in diesem Buche haben wir, wie in dem vorhergehenden, die Geschichte
einer fürstlichen Gefangenschaft, die ihrer Zeit mit Recht die allgemeine Theilnahme
Europas auf sich gezogen hat. Der unglückliche Knabe, an dem die Sünden
seiner Vorfahren so schrecklich gebüßt wurde», hat nichts in sich, was die innige
Theilnahme, die man dem Unglück schuldig ist, schmälern könnte. We»» es um»
auf den ersten Anblick auch etwas stark erscheint, von dem kurze», einförmige» und
traurigen Leben dieses Prinzen zwei starke Bände anzufüllen, so'schwindet dieses
Bedenken, wenn man dieses Werk als eine Sammlung von Ackerstücken z»r Kennt¬
niß einer der merkwürdigsten Cnlturperiode» betrachtet. Die Erzählung ist so
ausführlich, und die hinzugefügten Documente, z. B. eine ganze Reihe lithogra-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/297>, abgerufen am 06.05.2024.