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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Man kann über die entscheidenden Motive und über den Umfang der rus¬
sischen Motive bei seiner gegenwärtigen Handlungsweise verschiedener Meinung
sein; aber leugnen wird man nicht mögen, daß die fragliche Macht sichtlich uach
einem großen und bestimmt vor aller Denkenden Augen daliegenden Zielpunkt
ihre Anstrengungen dirigirt und nach der Gewinnung einen festen Besitz im Süd¬
osten und Süden Europas.

Es gab eine Zeit, wo die Nordhälfte unseres Welttheils Schauplatz der
größeren Veränderungen im Gegensatz zur südlichen war. Heute ist es umgekehrt
mehr diese wie jene, oder besser zu sagen: sie verspricht, droht respective, es zu
werden. Die sichtlichen Gefahren, welche die östreichische Monarchie rings um¬
geben, die unterwühlten Zustände im ganzen Osten dieses Kaiserstaares, die Mög¬
lichkeit eines Umsturzes des gauzen Riesenbaues, den im Laufe von sechs Jahr¬
hunderten eine consequente und unerbittliche Politik zusammengefügt; das Ver-
hängnißvolle dieses ungeheuern Vacnums legen Rußland die Pflicht auf, sich bei
Zeiten in die gehörige Stellung zu versetzen, um allen spätern Vorkommnissen
gewachsen zu sein. Die Moldau und Wallachei einerseits, und Polen andererseits
in den Händen, umgibt es Oestreich im Hintergrunde gleichsam mit einem weiten
Halbkreis von Krakau bis Orsova. Die ungarischen Hauptstädte sind Mittelpunkt
dieses Cirkels. Was hier vorgehen mag, Rußland wird darauf einwirken, und
zwar aus allen Richtungen her, die eine Peripherie von mehr als 130 Graden
hier bietet.




Die Berliner Universität hat diesmal den Astronomen Ente zum Rector ge¬
wählt. Sein Mitbewerber Dove, wenn man diesen uneigentlichen Ausdruck, da
Dove sich um nichts beworben, hingehen lassen will, ist nur um wenige Stimmen,
irre ich nicht nur um eine, hinter dem Kometenentdecker zurückgeblieben. Miß-
muthige Personen wollen auch in dieser Wahl wieder ein Tendenzstück unserer
Hochschule erblicken. Ich hospitirte während des verflossenen Winters bei schlech¬
tem Wetter zuweilen in der von Laien, Frauen und jungen Leuten vielbesuchten
astronomischen Vorlesung des von den Dänen abgesetzten Professor Rauch, der
in Preußen leider! noch immer keine Anstellung gefunden hat. Als er die
Verdienste Enkes um die nähere Bestimmung der Sonnen-Parallaxe und sonstige
Kenntniß der gestirnten Welt schilderte, flüsterte mir ein nicht sehr aufmerksamer
Nachbar zu: Ente ist ein Ultra, ein Conservativer, ein Freund der Junker! --
Ich weiß nicht, was wahres daran ist, erinnere mich aber sehr wohl des gar
nicht politischen, sondern mehr ästhetischen Aergers, den jene vorwitzige Bemer-


Grenzboten. til. -I8ö3, 39

Man kann über die entscheidenden Motive und über den Umfang der rus¬
sischen Motive bei seiner gegenwärtigen Handlungsweise verschiedener Meinung
sein; aber leugnen wird man nicht mögen, daß die fragliche Macht sichtlich uach
einem großen und bestimmt vor aller Denkenden Augen daliegenden Zielpunkt
ihre Anstrengungen dirigirt und nach der Gewinnung einen festen Besitz im Süd¬
osten und Süden Europas.

Es gab eine Zeit, wo die Nordhälfte unseres Welttheils Schauplatz der
größeren Veränderungen im Gegensatz zur südlichen war. Heute ist es umgekehrt
mehr diese wie jene, oder besser zu sagen: sie verspricht, droht respective, es zu
werden. Die sichtlichen Gefahren, welche die östreichische Monarchie rings um¬
geben, die unterwühlten Zustände im ganzen Osten dieses Kaiserstaares, die Mög¬
lichkeit eines Umsturzes des gauzen Riesenbaues, den im Laufe von sechs Jahr¬
hunderten eine consequente und unerbittliche Politik zusammengefügt; das Ver-
hängnißvolle dieses ungeheuern Vacnums legen Rußland die Pflicht auf, sich bei
Zeiten in die gehörige Stellung zu versetzen, um allen spätern Vorkommnissen
gewachsen zu sein. Die Moldau und Wallachei einerseits, und Polen andererseits
in den Händen, umgibt es Oestreich im Hintergrunde gleichsam mit einem weiten
Halbkreis von Krakau bis Orsova. Die ungarischen Hauptstädte sind Mittelpunkt
dieses Cirkels. Was hier vorgehen mag, Rußland wird darauf einwirken, und
zwar aus allen Richtungen her, die eine Peripherie von mehr als 130 Graden
hier bietet.




Die Berliner Universität hat diesmal den Astronomen Ente zum Rector ge¬
wählt. Sein Mitbewerber Dove, wenn man diesen uneigentlichen Ausdruck, da
Dove sich um nichts beworben, hingehen lassen will, ist nur um wenige Stimmen,
irre ich nicht nur um eine, hinter dem Kometenentdecker zurückgeblieben. Miß-
muthige Personen wollen auch in dieser Wahl wieder ein Tendenzstück unserer
Hochschule erblicken. Ich hospitirte während des verflossenen Winters bei schlech¬
tem Wetter zuweilen in der von Laien, Frauen und jungen Leuten vielbesuchten
astronomischen Vorlesung des von den Dänen abgesetzten Professor Rauch, der
in Preußen leider! noch immer keine Anstellung gefunden hat. Als er die
Verdienste Enkes um die nähere Bestimmung der Sonnen-Parallaxe und sonstige
Kenntniß der gestirnten Welt schilderte, flüsterte mir ein nicht sehr aufmerksamer
Nachbar zu: Ente ist ein Ultra, ein Conservativer, ein Freund der Junker! —
Ich weiß nicht, was wahres daran ist, erinnere mich aber sehr wohl des gar
nicht politischen, sondern mehr ästhetischen Aergers, den jene vorwitzige Bemer-


Grenzboten. til. -I8ö3, 39
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[0311] Man kann über die entscheidenden Motive und über den Umfang der rus¬ sischen Motive bei seiner gegenwärtigen Handlungsweise verschiedener Meinung sein; aber leugnen wird man nicht mögen, daß die fragliche Macht sichtlich uach einem großen und bestimmt vor aller Denkenden Augen daliegenden Zielpunkt ihre Anstrengungen dirigirt und nach der Gewinnung einen festen Besitz im Süd¬ osten und Süden Europas. Es gab eine Zeit, wo die Nordhälfte unseres Welttheils Schauplatz der größeren Veränderungen im Gegensatz zur südlichen war. Heute ist es umgekehrt mehr diese wie jene, oder besser zu sagen: sie verspricht, droht respective, es zu werden. Die sichtlichen Gefahren, welche die östreichische Monarchie rings um¬ geben, die unterwühlten Zustände im ganzen Osten dieses Kaiserstaares, die Mög¬ lichkeit eines Umsturzes des gauzen Riesenbaues, den im Laufe von sechs Jahr¬ hunderten eine consequente und unerbittliche Politik zusammengefügt; das Ver- hängnißvolle dieses ungeheuern Vacnums legen Rußland die Pflicht auf, sich bei Zeiten in die gehörige Stellung zu versetzen, um allen spätern Vorkommnissen gewachsen zu sein. Die Moldau und Wallachei einerseits, und Polen andererseits in den Händen, umgibt es Oestreich im Hintergrunde gleichsam mit einem weiten Halbkreis von Krakau bis Orsova. Die ungarischen Hauptstädte sind Mittelpunkt dieses Cirkels. Was hier vorgehen mag, Rußland wird darauf einwirken, und zwar aus allen Richtungen her, die eine Peripherie von mehr als 130 Graden hier bietet. Die Berliner Universität hat diesmal den Astronomen Ente zum Rector ge¬ wählt. Sein Mitbewerber Dove, wenn man diesen uneigentlichen Ausdruck, da Dove sich um nichts beworben, hingehen lassen will, ist nur um wenige Stimmen, irre ich nicht nur um eine, hinter dem Kometenentdecker zurückgeblieben. Miß- muthige Personen wollen auch in dieser Wahl wieder ein Tendenzstück unserer Hochschule erblicken. Ich hospitirte während des verflossenen Winters bei schlech¬ tem Wetter zuweilen in der von Laien, Frauen und jungen Leuten vielbesuchten astronomischen Vorlesung des von den Dänen abgesetzten Professor Rauch, der in Preußen leider! noch immer keine Anstellung gefunden hat. Als er die Verdienste Enkes um die nähere Bestimmung der Sonnen-Parallaxe und sonstige Kenntniß der gestirnten Welt schilderte, flüsterte mir ein nicht sehr aufmerksamer Nachbar zu: Ente ist ein Ultra, ein Conservativer, ein Freund der Junker! — Ich weiß nicht, was wahres daran ist, erinnere mich aber sehr wohl des gar nicht politischen, sondern mehr ästhetischen Aergers, den jene vorwitzige Bemer- Grenzboten. til. -I8ö3, 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/311>, abgerufen am 06.05.2024.