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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Neue Romane.
Wandlungen. Roman von Fanny Lewald. 4 Bde. Braunschweig, Vieweg. --

In der deutschen Literatur ist die Zahl der Damen gewiß ebenso groß, als
bei den Franzosen oder Engländern, es hat ihnen aber nicht gelingen wollen,
sich das Ansehn und den Einfluß zu verschaffen, der in Frankreich, noch weit
wehr aber in England der weiblichen Feder zu Theil geworden ist. Der Grund
davon scheint uns sehr nahe zu liegen. In England beschäftigen sich die Roman¬
schriftstellerinnen durchaus mit individuellen Verhältnissen, mit Geschichten aus dem
häuslichen Leben oder aus der Gesellschaft, die ihnen genau bekannt sind und
tu die sie häufig eine bessere Einsicht haben, als die Männer. In Deutschland dagegen
kann es eine Dame selten unterlassen, den allgemeinen Weltverkehr, die politischen
und religiösen Streitigkeiten, die höchsten Gedanken der Schöpfung und dergl.
vor ihr Forum zu ziehen; und zwar geschieht das bei uns nicht wie in Frankreich,
wo die Frauen sich, wenn auch nur ausnahmsweise, in ihren Romanen gleichfalls
mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen, auf die Weise, daß man sich rein
dem Gefühl und Jnstinct überläßt, woraus zuweilen eine große Macht der
Leidenschaft hervorgeht, wie z. B. bei Georges Sand, sondern mit Zugrunde-
legung der Reflexion und Analyse. In dieser Beziehung ist grade bei gebildeten
und geistreichen Frauen eine Selbsttäuschung schwer zu vermeiden. In dem
geselligen Leben empfinden sie sehr leicht eine gewisse Ueberlegenheit über die
Männer, mit denen sie verkehren. Ihre Beobachtung der individuellen Verhält¬
nisse, die ihnen nahe liegen, ist viel schärfer und feiner; ihr Urtheil über den
Totaleindruck einer menschlichen Natur viel schneller, elastischer und sicherer, und
sie haben eine große Gewandtheit darin, allgemeine Betrachtungen augenblicklich
aus einen bestimmten einzelnen Fall anzuwenden. Solange daher eine Frau
unbekümmert ihrem Instinct und ihrem Gefühl folgt, ist ihr Urtheil auch für
uns über die Angelegenheiten, in denen sie wirklich zu Hause ist, viel
gewichtiger, als das Urtheil von Männern, denn die Männer werden von


Grenzboten. III. 18ö3. 46
Neue Romane.
Wandlungen. Roman von Fanny Lewald. 4 Bde. Braunschweig, Vieweg. —

In der deutschen Literatur ist die Zahl der Damen gewiß ebenso groß, als
bei den Franzosen oder Engländern, es hat ihnen aber nicht gelingen wollen,
sich das Ansehn und den Einfluß zu verschaffen, der in Frankreich, noch weit
wehr aber in England der weiblichen Feder zu Theil geworden ist. Der Grund
davon scheint uns sehr nahe zu liegen. In England beschäftigen sich die Roman¬
schriftstellerinnen durchaus mit individuellen Verhältnissen, mit Geschichten aus dem
häuslichen Leben oder aus der Gesellschaft, die ihnen genau bekannt sind und
tu die sie häufig eine bessere Einsicht haben, als die Männer. In Deutschland dagegen
kann es eine Dame selten unterlassen, den allgemeinen Weltverkehr, die politischen
und religiösen Streitigkeiten, die höchsten Gedanken der Schöpfung und dergl.
vor ihr Forum zu ziehen; und zwar geschieht das bei uns nicht wie in Frankreich,
wo die Frauen sich, wenn auch nur ausnahmsweise, in ihren Romanen gleichfalls
mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen, auf die Weise, daß man sich rein
dem Gefühl und Jnstinct überläßt, woraus zuweilen eine große Macht der
Leidenschaft hervorgeht, wie z. B. bei Georges Sand, sondern mit Zugrunde-
legung der Reflexion und Analyse. In dieser Beziehung ist grade bei gebildeten
und geistreichen Frauen eine Selbsttäuschung schwer zu vermeiden. In dem
geselligen Leben empfinden sie sehr leicht eine gewisse Ueberlegenheit über die
Männer, mit denen sie verkehren. Ihre Beobachtung der individuellen Verhält¬
nisse, die ihnen nahe liegen, ist viel schärfer und feiner; ihr Urtheil über den
Totaleindruck einer menschlichen Natur viel schneller, elastischer und sicherer, und
sie haben eine große Gewandtheit darin, allgemeine Betrachtungen augenblicklich
aus einen bestimmten einzelnen Fall anzuwenden. Solange daher eine Frau
unbekümmert ihrem Instinct und ihrem Gefühl folgt, ist ihr Urtheil auch für
uns über die Angelegenheiten, in denen sie wirklich zu Hause ist, viel
gewichtiger, als das Urtheil von Männern, denn die Männer werden von


Grenzboten. III. 18ö3. 46
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[0367] Neue Romane. Wandlungen. Roman von Fanny Lewald. 4 Bde. Braunschweig, Vieweg. — In der deutschen Literatur ist die Zahl der Damen gewiß ebenso groß, als bei den Franzosen oder Engländern, es hat ihnen aber nicht gelingen wollen, sich das Ansehn und den Einfluß zu verschaffen, der in Frankreich, noch weit wehr aber in England der weiblichen Feder zu Theil geworden ist. Der Grund davon scheint uns sehr nahe zu liegen. In England beschäftigen sich die Roman¬ schriftstellerinnen durchaus mit individuellen Verhältnissen, mit Geschichten aus dem häuslichen Leben oder aus der Gesellschaft, die ihnen genau bekannt sind und tu die sie häufig eine bessere Einsicht haben, als die Männer. In Deutschland dagegen kann es eine Dame selten unterlassen, den allgemeinen Weltverkehr, die politischen und religiösen Streitigkeiten, die höchsten Gedanken der Schöpfung und dergl. vor ihr Forum zu ziehen; und zwar geschieht das bei uns nicht wie in Frankreich, wo die Frauen sich, wenn auch nur ausnahmsweise, in ihren Romanen gleichfalls mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen, auf die Weise, daß man sich rein dem Gefühl und Jnstinct überläßt, woraus zuweilen eine große Macht der Leidenschaft hervorgeht, wie z. B. bei Georges Sand, sondern mit Zugrunde- legung der Reflexion und Analyse. In dieser Beziehung ist grade bei gebildeten und geistreichen Frauen eine Selbsttäuschung schwer zu vermeiden. In dem geselligen Leben empfinden sie sehr leicht eine gewisse Ueberlegenheit über die Männer, mit denen sie verkehren. Ihre Beobachtung der individuellen Verhält¬ nisse, die ihnen nahe liegen, ist viel schärfer und feiner; ihr Urtheil über den Totaleindruck einer menschlichen Natur viel schneller, elastischer und sicherer, und sie haben eine große Gewandtheit darin, allgemeine Betrachtungen augenblicklich aus einen bestimmten einzelnen Fall anzuwenden. Solange daher eine Frau unbekümmert ihrem Instinct und ihrem Gefühl folgt, ist ihr Urtheil auch für uns über die Angelegenheiten, in denen sie wirklich zu Hause ist, viel gewichtiger, als das Urtheil von Männern, denn die Männer werden von Grenzboten. III. 18ö3. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/367>, abgerufen am 06.05.2024.