Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
2.

Die politische Krisis naht sich einer Explosion. Wenn der Krieg bislang
mehr wie eine entfernte Möglichkeit angesehen worden war, scheint er seit Anfang
der letztverflossenen Woche wahrscheinlich, und noch mehr als das, scheint er
unvermeidlich zu sein. Man fragt sich beklommen, welcher andere Ausgang als
der der Waffen noch verbleibe, nachdem die diplomatischen Verhandlungen in so
unglücklicher Weise geführt worden, daß es keine politische Position mehr gibt,
in der man einstweilen Wacht halten und eine günstigere Constellation abwarten
konnte. Denn nicht minder stark wie der Druck von außen her, drangen die
Gewalten von unter herauf. Die ganze muselmännische Bevölkerung ringsum
im weiten Reiche ist in Bewegung und in ihrer Tiefe erregt. Es hat sich dieses
Glaubens die Ueberzeugung bemächtigt, daß es einen Kampf um seiue Existenz
gelte, und der lang in Schlummer gelegene Fanatismus ist auf den lenken Noth¬
schrei der hvchobersten Imaus und Ulemas erwacht; in allen Kreisen und
Schichten, wo Alles unter Berufung auf Muhamed's Verkündigung verehrt wird,
kocht und gährt es. Käme dieser Sturm zum Ausbruch und fände er keinen
Ausweg, wie der Krieg ihn bieten würde, so dürste er mehr wie dieser selbst die
Existenz des osmanischen Reiches aufs Spiel setzen. Das fühlt man im Rathe
des Großherrn; unter den Staatsmännern, welche die oberste Leitung in Händen
haben, sind die meisten wohl von dem unheilvollen Ausgange überzeugt, den ein
Kampf, ohne Verbündete, Rußland gegenüber nehmen muß; wenn sie sich dem¬
nach für ihn entscheiden, so wählen sie ihn als das kleinere Uebel. Eine andere
Faction im Ministerium, es ist wahr, knüpft kindische Hoffnungen an den Krieg.
Der Chef dieser Partei ist Mehemed Ali Pascha, Kriegsminister und Schwager
des Sultans, während ein zweiter Schwager desselben, Achmed Foki-Pascha,
zur Zeit Großmeister der Artillerie, der zur Farbe Reschid-Paschas gehört, nach
wie vor den Weg der Waffen als verderblich bezeichnet.

Wie indeß die Dinge auch immer stehen mögen: das eine Zugeständniß
kann man der Pforte nicht versagen, daß sie eine noble Haltung im Laufe der
ganzen Krisis bewahrt hat, eine Haltung, die unendlich besser als diejenige
stärkerer und ungefährdeterer Mächte, als da sind England, Frankreich u. s. w.
war, und die, der Ausgang der Ereignisse mag sein welcher er wolle, ihr letzt¬
lich die Anerkennung der Geschichte verdienen wird, sollte anch diese alsdann un¬
parteiisch nicht mehr auf dem diesseitigen Gestade der Atlantis geschrieben werden
dürfen. Die gewaltige militärische Uebermacht Rußlands, und die in dichtester
Nähe an der unteren Donau sich zu entfalten begann, vor der ein Aberdeen,
seiner Nation und staatsmännischen Stellung doppelt unwerth, in den Staub sich
neigte und Louis Napoleon sich noch unter der Linie der früheren viel verachteten


2.

Die politische Krisis naht sich einer Explosion. Wenn der Krieg bislang
mehr wie eine entfernte Möglichkeit angesehen worden war, scheint er seit Anfang
der letztverflossenen Woche wahrscheinlich, und noch mehr als das, scheint er
unvermeidlich zu sein. Man fragt sich beklommen, welcher andere Ausgang als
der der Waffen noch verbleibe, nachdem die diplomatischen Verhandlungen in so
unglücklicher Weise geführt worden, daß es keine politische Position mehr gibt,
in der man einstweilen Wacht halten und eine günstigere Constellation abwarten
konnte. Denn nicht minder stark wie der Druck von außen her, drangen die
Gewalten von unter herauf. Die ganze muselmännische Bevölkerung ringsum
im weiten Reiche ist in Bewegung und in ihrer Tiefe erregt. Es hat sich dieses
Glaubens die Ueberzeugung bemächtigt, daß es einen Kampf um seiue Existenz
gelte, und der lang in Schlummer gelegene Fanatismus ist auf den lenken Noth¬
schrei der hvchobersten Imaus und Ulemas erwacht; in allen Kreisen und
Schichten, wo Alles unter Berufung auf Muhamed's Verkündigung verehrt wird,
kocht und gährt es. Käme dieser Sturm zum Ausbruch und fände er keinen
Ausweg, wie der Krieg ihn bieten würde, so dürste er mehr wie dieser selbst die
Existenz des osmanischen Reiches aufs Spiel setzen. Das fühlt man im Rathe
des Großherrn; unter den Staatsmännern, welche die oberste Leitung in Händen
haben, sind die meisten wohl von dem unheilvollen Ausgange überzeugt, den ein
Kampf, ohne Verbündete, Rußland gegenüber nehmen muß; wenn sie sich dem¬
nach für ihn entscheiden, so wählen sie ihn als das kleinere Uebel. Eine andere
Faction im Ministerium, es ist wahr, knüpft kindische Hoffnungen an den Krieg.
Der Chef dieser Partei ist Mehemed Ali Pascha, Kriegsminister und Schwager
des Sultans, während ein zweiter Schwager desselben, Achmed Foki-Pascha,
zur Zeit Großmeister der Artillerie, der zur Farbe Reschid-Paschas gehört, nach
wie vor den Weg der Waffen als verderblich bezeichnet.

Wie indeß die Dinge auch immer stehen mögen: das eine Zugeständniß
kann man der Pforte nicht versagen, daß sie eine noble Haltung im Laufe der
ganzen Krisis bewahrt hat, eine Haltung, die unendlich besser als diejenige
stärkerer und ungefährdeterer Mächte, als da sind England, Frankreich u. s. w.
war, und die, der Ausgang der Ereignisse mag sein welcher er wolle, ihr letzt¬
lich die Anerkennung der Geschichte verdienen wird, sollte anch diese alsdann un¬
parteiisch nicht mehr auf dem diesseitigen Gestade der Atlantis geschrieben werden
dürfen. Die gewaltige militärische Uebermacht Rußlands, und die in dichtester
Nähe an der unteren Donau sich zu entfalten begann, vor der ein Aberdeen,
seiner Nation und staatsmännischen Stellung doppelt unwerth, in den Staub sich
neigte und Louis Napoleon sich noch unter der Linie der früheren viel verachteten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96899"/>
          <div n="2">
            <head> 2.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_516"> Die politische Krisis naht sich einer Explosion. Wenn der Krieg bislang<lb/>
mehr wie eine entfernte Möglichkeit angesehen worden war, scheint er seit Anfang<lb/>
der letztverflossenen Woche wahrscheinlich, und noch mehr als das, scheint er<lb/>
unvermeidlich zu sein. Man fragt sich beklommen, welcher andere Ausgang als<lb/>
der der Waffen noch verbleibe, nachdem die diplomatischen Verhandlungen in so<lb/>
unglücklicher Weise geführt worden, daß es keine politische Position mehr gibt,<lb/>
in der man einstweilen Wacht halten und eine günstigere Constellation abwarten<lb/>
konnte. Denn nicht minder stark wie der Druck von außen her, drangen die<lb/>
Gewalten von unter herauf. Die ganze muselmännische Bevölkerung ringsum<lb/>
im weiten Reiche ist in Bewegung und in ihrer Tiefe erregt. Es hat sich dieses<lb/>
Glaubens die Ueberzeugung bemächtigt, daß es einen Kampf um seiue Existenz<lb/>
gelte, und der lang in Schlummer gelegene Fanatismus ist auf den lenken Noth¬<lb/>
schrei der hvchobersten Imaus und Ulemas erwacht; in allen Kreisen und<lb/>
Schichten, wo Alles unter Berufung auf Muhamed's Verkündigung verehrt wird,<lb/>
kocht und gährt es. Käme dieser Sturm zum Ausbruch und fände er keinen<lb/>
Ausweg, wie der Krieg ihn bieten würde, so dürste er mehr wie dieser selbst die<lb/>
Existenz des osmanischen Reiches aufs Spiel setzen. Das fühlt man im Rathe<lb/>
des Großherrn; unter den Staatsmännern, welche die oberste Leitung in Händen<lb/>
haben, sind die meisten wohl von dem unheilvollen Ausgange überzeugt, den ein<lb/>
Kampf, ohne Verbündete, Rußland gegenüber nehmen muß; wenn sie sich dem¬<lb/>
nach für ihn entscheiden, so wählen sie ihn als das kleinere Uebel. Eine andere<lb/>
Faction im Ministerium, es ist wahr, knüpft kindische Hoffnungen an den Krieg.<lb/>
Der Chef dieser Partei ist Mehemed Ali Pascha, Kriegsminister und Schwager<lb/>
des Sultans, während ein zweiter Schwager desselben, Achmed Foki-Pascha,<lb/>
zur Zeit Großmeister der Artillerie, der zur Farbe Reschid-Paschas gehört, nach<lb/>
wie vor den Weg der Waffen als verderblich bezeichnet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_517" next="#ID_518"> Wie indeß die Dinge auch immer stehen mögen: das eine Zugeständniß<lb/>
kann man der Pforte nicht versagen, daß sie eine noble Haltung im Laufe der<lb/>
ganzen Krisis bewahrt hat, eine Haltung, die unendlich besser als diejenige<lb/>
stärkerer und ungefährdeterer Mächte, als da sind England, Frankreich u. s. w.<lb/>
war, und die, der Ausgang der Ereignisse mag sein welcher er wolle, ihr letzt¬<lb/>
lich die Anerkennung der Geschichte verdienen wird, sollte anch diese alsdann un¬<lb/>
parteiisch nicht mehr auf dem diesseitigen Gestade der Atlantis geschrieben werden<lb/>
dürfen. Die gewaltige militärische Uebermacht Rußlands, und die in dichtester<lb/>
Nähe an der unteren Donau sich zu entfalten begann, vor der ein Aberdeen,<lb/>
seiner Nation und staatsmännischen Stellung doppelt unwerth, in den Staub sich<lb/>
neigte und Louis Napoleon sich noch unter der Linie der früheren viel verachteten</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0194] 2. Die politische Krisis naht sich einer Explosion. Wenn der Krieg bislang mehr wie eine entfernte Möglichkeit angesehen worden war, scheint er seit Anfang der letztverflossenen Woche wahrscheinlich, und noch mehr als das, scheint er unvermeidlich zu sein. Man fragt sich beklommen, welcher andere Ausgang als der der Waffen noch verbleibe, nachdem die diplomatischen Verhandlungen in so unglücklicher Weise geführt worden, daß es keine politische Position mehr gibt, in der man einstweilen Wacht halten und eine günstigere Constellation abwarten konnte. Denn nicht minder stark wie der Druck von außen her, drangen die Gewalten von unter herauf. Die ganze muselmännische Bevölkerung ringsum im weiten Reiche ist in Bewegung und in ihrer Tiefe erregt. Es hat sich dieses Glaubens die Ueberzeugung bemächtigt, daß es einen Kampf um seiue Existenz gelte, und der lang in Schlummer gelegene Fanatismus ist auf den lenken Noth¬ schrei der hvchobersten Imaus und Ulemas erwacht; in allen Kreisen und Schichten, wo Alles unter Berufung auf Muhamed's Verkündigung verehrt wird, kocht und gährt es. Käme dieser Sturm zum Ausbruch und fände er keinen Ausweg, wie der Krieg ihn bieten würde, so dürste er mehr wie dieser selbst die Existenz des osmanischen Reiches aufs Spiel setzen. Das fühlt man im Rathe des Großherrn; unter den Staatsmännern, welche die oberste Leitung in Händen haben, sind die meisten wohl von dem unheilvollen Ausgange überzeugt, den ein Kampf, ohne Verbündete, Rußland gegenüber nehmen muß; wenn sie sich dem¬ nach für ihn entscheiden, so wählen sie ihn als das kleinere Uebel. Eine andere Faction im Ministerium, es ist wahr, knüpft kindische Hoffnungen an den Krieg. Der Chef dieser Partei ist Mehemed Ali Pascha, Kriegsminister und Schwager des Sultans, während ein zweiter Schwager desselben, Achmed Foki-Pascha, zur Zeit Großmeister der Artillerie, der zur Farbe Reschid-Paschas gehört, nach wie vor den Weg der Waffen als verderblich bezeichnet. Wie indeß die Dinge auch immer stehen mögen: das eine Zugeständniß kann man der Pforte nicht versagen, daß sie eine noble Haltung im Laufe der ganzen Krisis bewahrt hat, eine Haltung, die unendlich besser als diejenige stärkerer und ungefährdeterer Mächte, als da sind England, Frankreich u. s. w. war, und die, der Ausgang der Ereignisse mag sein welcher er wolle, ihr letzt¬ lich die Anerkennung der Geschichte verdienen wird, sollte anch diese alsdann un¬ parteiisch nicht mehr auf dem diesseitigen Gestade der Atlantis geschrieben werden dürfen. Die gewaltige militärische Uebermacht Rußlands, und die in dichtester Nähe an der unteren Donau sich zu entfalten begann, vor der ein Aberdeen, seiner Nation und staatsmännischen Stellung doppelt unwerth, in den Staub sich neigte und Louis Napoleon sich noch unter der Linie der früheren viel verachteten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/194
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/194>, abgerufen am 19.05.2024.