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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Thomas Carlyle.

Th. Carlyle über Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte.
Sechs Vorlesungen. Deutsch von I. Neuberg. Berlin, Decker. --

Wir hoben uns über Carlyle in einem früheren Artikel ausgesprochen. Er
steht unter allen englischen Schriftstellern dem Geist der deutschen Literatur am
nächsten, und wir finden unsere eigenen Vorzüge und Schwächen auf eine merk¬
würdige Weise bei ihm ausgeprägt wieder. Er besitzt eine Fülle von Geist, aber
es fehlt ihm der bei den Engländern sonst so gewöhnliche common-söiiss, um
dieser Fülle Gestalt und Richtung zu geben. Seine Schriften sind weder Poesie
noch Prosa; zu der ersteren fehlt ihnen die plastische Form, zu der zweiten der
logische, mit einer gewissen Energie fortschreitende Gedankengang. So machen
sie als Ganzes einen unbefriedigender Eindruck, aber im einzelnen enthalten sie
die glänzendsten Einfälle, tiefe und überraschende Gedanken, an denen wir ebenso
unser Gefühl wie unsern Verstand stärken können.

Die gegenwärtigen Vorlesungen wurden im Jahr 48i0 gehalten. Carlyle
hat in denselben seine Lieblingsidee auseinandergesetzt, die sich wie ein rother
Faden durch alle seine Schriften zieht, und die im wesentlichen mit dem "Cultus
des Genius" von Strauß übereinkommt. Er schildert das Wesen der Religion,
das Suchen der Menschen nach dem Göttlichen. "Wenn alle Arten Dinge, die
wir anschauen, Sinnbilder des höchsten Gottes für uns sind, so füge ich hinzu,
daß mehr als irgend eines derselben der Mensch ein solches Sinnbild ist . . .
Wir sind das Wunder der Natur, das große unerforschliche Mysterium Gottes.
Wir vermögen es nicht zu verstehen, wir wissen nicht wie davon zu sprechen;
aber wir können, wenn wir wollen, fühlen und wissen, daß es in Wahrheit so
ist." -- Nach Carlyle, wie nach den Ideen unseres Schiller, zeigt sich das
Bild der Menschheit nur in den großen Menschen, in den Heroen. "Ein edleres
Gefühl als das der Bewunderung eines Höhern, wohnt nicht in der Menschen-
brust. Es ist zur heutigen Stunde, wie zu allen Stunden, der beseelende An¬
trieb im Menschenleben. Religion finde ich darauf begründet; nicht nur heid-
nische, sondern alle bisher bekannte Religion. Heldenanbetung, innigste sußsällige
Bewunderung, inbrünstige grenzenlose Unterwürfigkeit vor einer edelsten göttlichen
Menschengestalt, ist das nicht der Keim des Christenthums selbst?" -- In dieser
Ausdehnung ist die Behauptung wol offenbar unrichtig, und Carlyle macht
uns auch (in seiner ersten Vorlesung: der Held als Gottheit) nicht klar, wie im
Heidenthum, namentlich in, dem skandinavischen, mit dem er sich fast ausschließlich
beschäftigt, grade das Bedürfniß der Anbetung jene Mythologie herangebracht
habe, die uns die Quellen überliefern. Bedeutender ist das zweite Capitel:
der Held als Prophet. Es beschäftigt sich ausschließlich mit Mahomed, von


Grenzboten. IV. 18SZ. 9
Thomas Carlyle.

Th. Carlyle über Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte.
Sechs Vorlesungen. Deutsch von I. Neuberg. Berlin, Decker. —

Wir hoben uns über Carlyle in einem früheren Artikel ausgesprochen. Er
steht unter allen englischen Schriftstellern dem Geist der deutschen Literatur am
nächsten, und wir finden unsere eigenen Vorzüge und Schwächen auf eine merk¬
würdige Weise bei ihm ausgeprägt wieder. Er besitzt eine Fülle von Geist, aber
es fehlt ihm der bei den Engländern sonst so gewöhnliche common-söiiss, um
dieser Fülle Gestalt und Richtung zu geben. Seine Schriften sind weder Poesie
noch Prosa; zu der ersteren fehlt ihnen die plastische Form, zu der zweiten der
logische, mit einer gewissen Energie fortschreitende Gedankengang. So machen
sie als Ganzes einen unbefriedigender Eindruck, aber im einzelnen enthalten sie
die glänzendsten Einfälle, tiefe und überraschende Gedanken, an denen wir ebenso
unser Gefühl wie unsern Verstand stärken können.

Die gegenwärtigen Vorlesungen wurden im Jahr 48i0 gehalten. Carlyle
hat in denselben seine Lieblingsidee auseinandergesetzt, die sich wie ein rother
Faden durch alle seine Schriften zieht, und die im wesentlichen mit dem „Cultus
des Genius" von Strauß übereinkommt. Er schildert das Wesen der Religion,
das Suchen der Menschen nach dem Göttlichen. „Wenn alle Arten Dinge, die
wir anschauen, Sinnbilder des höchsten Gottes für uns sind, so füge ich hinzu,
daß mehr als irgend eines derselben der Mensch ein solches Sinnbild ist . . .
Wir sind das Wunder der Natur, das große unerforschliche Mysterium Gottes.
Wir vermögen es nicht zu verstehen, wir wissen nicht wie davon zu sprechen;
aber wir können, wenn wir wollen, fühlen und wissen, daß es in Wahrheit so
ist." — Nach Carlyle, wie nach den Ideen unseres Schiller, zeigt sich das
Bild der Menschheit nur in den großen Menschen, in den Heroen. „Ein edleres
Gefühl als das der Bewunderung eines Höhern, wohnt nicht in der Menschen-
brust. Es ist zur heutigen Stunde, wie zu allen Stunden, der beseelende An¬
trieb im Menschenleben. Religion finde ich darauf begründet; nicht nur heid-
nische, sondern alle bisher bekannte Religion. Heldenanbetung, innigste sußsällige
Bewunderung, inbrünstige grenzenlose Unterwürfigkeit vor einer edelsten göttlichen
Menschengestalt, ist das nicht der Keim des Christenthums selbst?" — In dieser
Ausdehnung ist die Behauptung wol offenbar unrichtig, und Carlyle macht
uns auch (in seiner ersten Vorlesung: der Held als Gottheit) nicht klar, wie im
Heidenthum, namentlich in, dem skandinavischen, mit dem er sich fast ausschließlich
beschäftigt, grade das Bedürfniß der Anbetung jene Mythologie herangebracht
habe, die uns die Quellen überliefern. Bedeutender ist das zweite Capitel:
der Held als Prophet. Es beschäftigt sich ausschließlich mit Mahomed, von


Grenzboten. IV. 18SZ. 9
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[0073] Thomas Carlyle. Th. Carlyle über Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte. Sechs Vorlesungen. Deutsch von I. Neuberg. Berlin, Decker. — Wir hoben uns über Carlyle in einem früheren Artikel ausgesprochen. Er steht unter allen englischen Schriftstellern dem Geist der deutschen Literatur am nächsten, und wir finden unsere eigenen Vorzüge und Schwächen auf eine merk¬ würdige Weise bei ihm ausgeprägt wieder. Er besitzt eine Fülle von Geist, aber es fehlt ihm der bei den Engländern sonst so gewöhnliche common-söiiss, um dieser Fülle Gestalt und Richtung zu geben. Seine Schriften sind weder Poesie noch Prosa; zu der ersteren fehlt ihnen die plastische Form, zu der zweiten der logische, mit einer gewissen Energie fortschreitende Gedankengang. So machen sie als Ganzes einen unbefriedigender Eindruck, aber im einzelnen enthalten sie die glänzendsten Einfälle, tiefe und überraschende Gedanken, an denen wir ebenso unser Gefühl wie unsern Verstand stärken können. Die gegenwärtigen Vorlesungen wurden im Jahr 48i0 gehalten. Carlyle hat in denselben seine Lieblingsidee auseinandergesetzt, die sich wie ein rother Faden durch alle seine Schriften zieht, und die im wesentlichen mit dem „Cultus des Genius" von Strauß übereinkommt. Er schildert das Wesen der Religion, das Suchen der Menschen nach dem Göttlichen. „Wenn alle Arten Dinge, die wir anschauen, Sinnbilder des höchsten Gottes für uns sind, so füge ich hinzu, daß mehr als irgend eines derselben der Mensch ein solches Sinnbild ist . . . Wir sind das Wunder der Natur, das große unerforschliche Mysterium Gottes. Wir vermögen es nicht zu verstehen, wir wissen nicht wie davon zu sprechen; aber wir können, wenn wir wollen, fühlen und wissen, daß es in Wahrheit so ist." — Nach Carlyle, wie nach den Ideen unseres Schiller, zeigt sich das Bild der Menschheit nur in den großen Menschen, in den Heroen. „Ein edleres Gefühl als das der Bewunderung eines Höhern, wohnt nicht in der Menschen- brust. Es ist zur heutigen Stunde, wie zu allen Stunden, der beseelende An¬ trieb im Menschenleben. Religion finde ich darauf begründet; nicht nur heid- nische, sondern alle bisher bekannte Religion. Heldenanbetung, innigste sußsällige Bewunderung, inbrünstige grenzenlose Unterwürfigkeit vor einer edelsten göttlichen Menschengestalt, ist das nicht der Keim des Christenthums selbst?" — In dieser Ausdehnung ist die Behauptung wol offenbar unrichtig, und Carlyle macht uns auch (in seiner ersten Vorlesung: der Held als Gottheit) nicht klar, wie im Heidenthum, namentlich in, dem skandinavischen, mit dem er sich fast ausschließlich beschäftigt, grade das Bedürfniß der Anbetung jene Mythologie herangebracht habe, die uns die Quellen überliefern. Bedeutender ist das zweite Capitel: der Held als Prophet. Es beschäftigt sich ausschließlich mit Mahomed, von Grenzboten. IV. 18SZ. 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/73>, abgerufen am 19.05.2024.