Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Novellen und Erzählungen von Arnold Schloenbach. 2 ,Bd. Leipzig,
Hinze. --

Die Novellen sind nicht ohne Geschick erzählt, aber es sehlt ihnen etwas,
was bei der Schilderung socialer Zustände doch die Hauptsache ist, die Natur-
Wahrheit. Es ist merkwürdig, daß die deutschen Novellisten um so eifriger die
Aristokratie zum Gegenstand ihrer Erfindungen machen, je weniger sie mit der¬
selben bekannt sind. Wir wollen nur auf die erste dieser Novellen aufmerksam
machen. Ein junger Diplomat soll soeben die Tochter eines östreichischen
Gesandten heirathen, welcher der höchsten Aristokratie angehört; er geht
vorher noch in die Restauration, um zu Mittag zu speisen, da erhalte er einen
Zettel von seiner Braut: "Wer vor einer so wichtigen Handlung essen kann,
der soll nicht mein Man werden." Er hat nichts Eiligeres zu thun, als diesen
Zettel einem jungen bürgerlichen Arzt zu geben, der mit ihm zusammen studirt
hat, mit dem er aber sonst nicht im 'geringsten vertraulichen Verhältniß steht.
Dieser junge Arzt, der früher zu den gemischten Cirkeln des Gesandten Zutritt
hatte, wird von dem gnädigen Fräulein gerufen. Er eröffnet die Unterhaltung
gleich damit, daß er ihr erklärt, sie wäre nicht krank am Leibe, sondern an der
Seele, gibt ihr dann ein Erpos-z von ihrem Charakter und überreicht ihr zum
Schluß, um sie von ihrem Verhältniß völlig zu lösen, den ihm anvertrauten
Brief. Diese einzige Scene genügt, um in der stolzen aristokratischen Schönheit
den Entschluß reifen zu lassen, den bürgerlichen Doctor zu heirathen, was
endlich ihr Vater, nachdem er vorher einige unpassende Worte von Vergiftung
und dergleichen gemurmelt, auch zugibt. Um diese Ausgleichung der Stände
vollständig zu machen, heirathet ein anderer bürgerlicher Doctor, und zwar ein
Doctor der Naturwissenschaften, die Tochter eines englischen Lords, und zwar
ohne irgendeinen Widerstand. -- In diesem Gemälde ist jeder einzelne Zug
mit den wirklichen Zuständen des Lebens völlig unvereinbar; und das ist für
eine sociale Novelle doch wol ein entscheidender Fehler. --


Märchen von Fr v. Wo ringen., Berlin, Decker. --

Die Märchen sind gut erzählt, die Stoffe bei aller Phantastik doch nicht
überschwenglich, und die Ausstattung sehr zierlich, was bei derartigen Weih¬
nachtsbüchlein doch auch zur Sache gehört. -- Bei dieser Gelegenheit führen
wir ein ähnliches kleineres Product an: "De Swienegcl als Wettrenner."
Ein plattdeutsches Märchen. Neu illustrirt und mit einem Nachwort versehen
von I. P. T. Lyser. Hamburg, Hoffmann u. Campe. -- Der Verfasser
dieser liebenswürdigen Geschichte, deren Text wir vor einiger Zeit selbst mit¬
getheilt haben, ist j?obbe. --.'-


32*
Novellen und Erzählungen von Arnold Schloenbach. 2 ,Bd. Leipzig,
Hinze. —

Die Novellen sind nicht ohne Geschick erzählt, aber es sehlt ihnen etwas,
was bei der Schilderung socialer Zustände doch die Hauptsache ist, die Natur-
Wahrheit. Es ist merkwürdig, daß die deutschen Novellisten um so eifriger die
Aristokratie zum Gegenstand ihrer Erfindungen machen, je weniger sie mit der¬
selben bekannt sind. Wir wollen nur auf die erste dieser Novellen aufmerksam
machen. Ein junger Diplomat soll soeben die Tochter eines östreichischen
Gesandten heirathen, welcher der höchsten Aristokratie angehört; er geht
vorher noch in die Restauration, um zu Mittag zu speisen, da erhalte er einen
Zettel von seiner Braut: „Wer vor einer so wichtigen Handlung essen kann,
der soll nicht mein Man werden." Er hat nichts Eiligeres zu thun, als diesen
Zettel einem jungen bürgerlichen Arzt zu geben, der mit ihm zusammen studirt
hat, mit dem er aber sonst nicht im 'geringsten vertraulichen Verhältniß steht.
Dieser junge Arzt, der früher zu den gemischten Cirkeln des Gesandten Zutritt
hatte, wird von dem gnädigen Fräulein gerufen. Er eröffnet die Unterhaltung
gleich damit, daß er ihr erklärt, sie wäre nicht krank am Leibe, sondern an der
Seele, gibt ihr dann ein Erpos-z von ihrem Charakter und überreicht ihr zum
Schluß, um sie von ihrem Verhältniß völlig zu lösen, den ihm anvertrauten
Brief. Diese einzige Scene genügt, um in der stolzen aristokratischen Schönheit
den Entschluß reifen zu lassen, den bürgerlichen Doctor zu heirathen, was
endlich ihr Vater, nachdem er vorher einige unpassende Worte von Vergiftung
und dergleichen gemurmelt, auch zugibt. Um diese Ausgleichung der Stände
vollständig zu machen, heirathet ein anderer bürgerlicher Doctor, und zwar ein
Doctor der Naturwissenschaften, die Tochter eines englischen Lords, und zwar
ohne irgendeinen Widerstand. — In diesem Gemälde ist jeder einzelne Zug
mit den wirklichen Zuständen des Lebens völlig unvereinbar; und das ist für
eine sociale Novelle doch wol ein entscheidender Fehler. —


Märchen von Fr v. Wo ringen., Berlin, Decker. —

Die Märchen sind gut erzählt, die Stoffe bei aller Phantastik doch nicht
überschwenglich, und die Ausstattung sehr zierlich, was bei derartigen Weih¬
nachtsbüchlein doch auch zur Sache gehört. — Bei dieser Gelegenheit führen
wir ein ähnliches kleineres Product an: „De Swienegcl als Wettrenner."
Ein plattdeutsches Märchen. Neu illustrirt und mit einem Nachwort versehen
von I. P. T. Lyser. Hamburg, Hoffmann u. Campe. — Der Verfasser
dieser liebenswürdigen Geschichte, deren Text wir vor einiger Zeit selbst mit¬
getheilt haben, ist j?obbe. —.'-


32*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0419" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98733"/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Novellen und Erzählungen von Arnold Schloenbach. 2 ,Bd. Leipzig,<lb/>
Hinze. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1347"> Die Novellen sind nicht ohne Geschick erzählt, aber es sehlt ihnen etwas,<lb/>
was bei der Schilderung socialer Zustände doch die Hauptsache ist, die Natur-<lb/>
Wahrheit. Es ist merkwürdig, daß die deutschen Novellisten um so eifriger die<lb/>
Aristokratie zum Gegenstand ihrer Erfindungen machen, je weniger sie mit der¬<lb/>
selben bekannt sind. Wir wollen nur auf die erste dieser Novellen aufmerksam<lb/>
machen. Ein junger Diplomat soll soeben die Tochter eines östreichischen<lb/>
Gesandten heirathen, welcher der höchsten Aristokratie angehört; er geht<lb/>
vorher noch in die Restauration, um zu Mittag zu speisen, da erhalte er einen<lb/>
Zettel von seiner Braut: &#x201E;Wer vor einer so wichtigen Handlung essen kann,<lb/>
der soll nicht mein Man werden." Er hat nichts Eiligeres zu thun, als diesen<lb/>
Zettel einem jungen bürgerlichen Arzt zu geben, der mit ihm zusammen studirt<lb/>
hat, mit dem er aber sonst nicht im 'geringsten vertraulichen Verhältniß steht.<lb/>
Dieser junge Arzt, der früher zu den gemischten Cirkeln des Gesandten Zutritt<lb/>
hatte, wird von dem gnädigen Fräulein gerufen. Er eröffnet die Unterhaltung<lb/>
gleich damit, daß er ihr erklärt, sie wäre nicht krank am Leibe, sondern an der<lb/>
Seele, gibt ihr dann ein Erpos-z von ihrem Charakter und überreicht ihr zum<lb/>
Schluß, um sie von ihrem Verhältniß völlig zu lösen, den ihm anvertrauten<lb/>
Brief. Diese einzige Scene genügt, um in der stolzen aristokratischen Schönheit<lb/>
den Entschluß reifen zu lassen, den bürgerlichen Doctor zu heirathen, was<lb/>
endlich ihr Vater, nachdem er vorher einige unpassende Worte von Vergiftung<lb/>
und dergleichen gemurmelt, auch zugibt. Um diese Ausgleichung der Stände<lb/>
vollständig zu machen, heirathet ein anderer bürgerlicher Doctor, und zwar ein<lb/>
Doctor der Naturwissenschaften, die Tochter eines englischen Lords, und zwar<lb/>
ohne irgendeinen Widerstand. &#x2014; In diesem Gemälde ist jeder einzelne Zug<lb/>
mit den wirklichen Zuständen des Lebens völlig unvereinbar; und das ist für<lb/>
eine sociale Novelle doch wol ein entscheidender Fehler. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Märchen von Fr v. Wo ringen., Berlin, Decker. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1348"> Die Märchen sind gut erzählt, die Stoffe bei aller Phantastik doch nicht<lb/>
überschwenglich, und die Ausstattung sehr zierlich, was bei derartigen Weih¬<lb/>
nachtsbüchlein doch auch zur Sache gehört. &#x2014; Bei dieser Gelegenheit führen<lb/>
wir ein ähnliches kleineres Product an: &#x201E;De Swienegcl als Wettrenner."<lb/>
Ein plattdeutsches Märchen. Neu illustrirt und mit einem Nachwort versehen<lb/>
von I. P. T. Lyser. Hamburg, Hoffmann u. Campe. &#x2014; Der Verfasser<lb/>
dieser liebenswürdigen Geschichte, deren Text wir vor einiger Zeit selbst mit¬<lb/>
getheilt haben, ist j?obbe. &#x2014;.'-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 32*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0419] Novellen und Erzählungen von Arnold Schloenbach. 2 ,Bd. Leipzig, Hinze. — Die Novellen sind nicht ohne Geschick erzählt, aber es sehlt ihnen etwas, was bei der Schilderung socialer Zustände doch die Hauptsache ist, die Natur- Wahrheit. Es ist merkwürdig, daß die deutschen Novellisten um so eifriger die Aristokratie zum Gegenstand ihrer Erfindungen machen, je weniger sie mit der¬ selben bekannt sind. Wir wollen nur auf die erste dieser Novellen aufmerksam machen. Ein junger Diplomat soll soeben die Tochter eines östreichischen Gesandten heirathen, welcher der höchsten Aristokratie angehört; er geht vorher noch in die Restauration, um zu Mittag zu speisen, da erhalte er einen Zettel von seiner Braut: „Wer vor einer so wichtigen Handlung essen kann, der soll nicht mein Man werden." Er hat nichts Eiligeres zu thun, als diesen Zettel einem jungen bürgerlichen Arzt zu geben, der mit ihm zusammen studirt hat, mit dem er aber sonst nicht im 'geringsten vertraulichen Verhältniß steht. Dieser junge Arzt, der früher zu den gemischten Cirkeln des Gesandten Zutritt hatte, wird von dem gnädigen Fräulein gerufen. Er eröffnet die Unterhaltung gleich damit, daß er ihr erklärt, sie wäre nicht krank am Leibe, sondern an der Seele, gibt ihr dann ein Erpos-z von ihrem Charakter und überreicht ihr zum Schluß, um sie von ihrem Verhältniß völlig zu lösen, den ihm anvertrauten Brief. Diese einzige Scene genügt, um in der stolzen aristokratischen Schönheit den Entschluß reifen zu lassen, den bürgerlichen Doctor zu heirathen, was endlich ihr Vater, nachdem er vorher einige unpassende Worte von Vergiftung und dergleichen gemurmelt, auch zugibt. Um diese Ausgleichung der Stände vollständig zu machen, heirathet ein anderer bürgerlicher Doctor, und zwar ein Doctor der Naturwissenschaften, die Tochter eines englischen Lords, und zwar ohne irgendeinen Widerstand. — In diesem Gemälde ist jeder einzelne Zug mit den wirklichen Zuständen des Lebens völlig unvereinbar; und das ist für eine sociale Novelle doch wol ein entscheidender Fehler. — Märchen von Fr v. Wo ringen., Berlin, Decker. — Die Märchen sind gut erzählt, die Stoffe bei aller Phantastik doch nicht überschwenglich, und die Ausstattung sehr zierlich, was bei derartigen Weih¬ nachtsbüchlein doch auch zur Sache gehört. — Bei dieser Gelegenheit führen wir ein ähnliches kleineres Product an: „De Swienegcl als Wettrenner." Ein plattdeutsches Märchen. Neu illustrirt und mit einem Nachwort versehen von I. P. T. Lyser. Hamburg, Hoffmann u. Campe. — Der Verfasser dieser liebenswürdigen Geschichte, deren Text wir vor einiger Zeit selbst mit¬ getheilt haben, ist j?obbe. —.'- 32*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/419
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/419>, abgerufen am 06.05.2024.