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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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verknüpft ist wie im Mittelalter, das erfahren wir nicht. Es erscheint uns also
in dieser individuellen Begebenheit das Meiste unwahrscheinlich, während die all¬
gemeinen Darstellungen uns vollkommen überzeugen und befriedigen.

Ein Frauenleben, Roman von Elise Pvlko. 2 Bände.' Leipzig,
Schlicke. -- Was wir von einem Fraucnrvman zunächst erwarten, wenn wir uns
für ihn interessiren sollen, ist Jngennitat der Empfindung. In Her Regel lieben
es die Frauen, in das Geschäft der Männer einzugreifen, über Gott, Natur, die
Geschichte und andere Dinge zu philosophiren, woraus in der Regel sehr un¬
befriedigende Dinge hervorgehen. Diesen Fehler hat die Verfasserin ziemlich
vermieden. Zwar kommen auch einige Unterhaltungen über Literatur und ähn¬
liches vor, die nicht grade nöthig waren, im ganzen aber 'bezieht sich die Dar¬
stellung auf Empfindungen und Anschauungen, die ihr lebendig und gegenwärtig
sein konnten. Fräulein Vogel war früher anch in Leipzig als vortreffliche Sän¬
gerin bekannt; sie hat Gelegenheit gehabt, die Licht- und Schattenseiten einer
künstlerischen Thätigkeit lebhaft zu empfinden, und stellt sie mit klaren und über¬
zeugenden Farbe" dar. Zu loben ist außerdem, daß sie gegen.die Capricen eines
weiblichen Herzens, die freilich in etwas überreichen Maße auftreten, keineswegs
wehrlos ist, daß sie durch ihren Verstand und ihr Gewissen dieselben in das rechte
Licht z" stellen sucht. Zu loben ist ferner, daß sie den an sich etwas unerfreu¬
lichen Stoff, die Uebelstande einer übereilten Künstlerehe, mit so wenig Senti¬
mentalität behandelt, als irgend möglich war. In der Form herrscht noch eine
gewisse Zerflvssenheit; die Verfasserin hat noch nicht gelernt, was die Seele
fieberhaft bewegt, in einen scharfen und prägnanten Ausdruck zusammenzudrängen.
Obgleich ihre Darstellung nicht eigentlich breit ist, so vermißt man doch die ge¬
messene, in dieAugen springende Gestaltung.




Die französische Revolution von Lamartine.

I^Sö eansMugMs plrr as I^martwe. 2 Bände. Brüssel und Leipzig,
Kießling u. Comp. -- Der 2. Band dieses Werks ist sehr schnell ans den ersten
gefolgt, den wir vor kurzem besprochen haben. Er übertrifft denselben bei weitem.
Zwar ist anch hier an eine originelle Feststellung der Thatsachen nicht zu denken
und wir müssen uns häufig fragen, warum eigentlich alle diese Geschichten,. die
uns aus ebenso guten Darstellungen schon früher bekannt waren, hier noch ein¬
mal erzählt werden. Allein der Inhalt dieses Bandes, der die Zeit von der
Erstürmung der Bastille bis zum Octoberzng der Pariser nach Versailles umfaßt,
bietet dem Verfasser eine viel reichhaltigere Gelegenheit, sein descriptives Talent
anzuwenden. Die großen Volksscenen sind mit unnachahmlicher Grazie erzählt,


verknüpft ist wie im Mittelalter, das erfahren wir nicht. Es erscheint uns also
in dieser individuellen Begebenheit das Meiste unwahrscheinlich, während die all¬
gemeinen Darstellungen uns vollkommen überzeugen und befriedigen.

Ein Frauenleben, Roman von Elise Pvlko. 2 Bände.' Leipzig,
Schlicke. — Was wir von einem Fraucnrvman zunächst erwarten, wenn wir uns
für ihn interessiren sollen, ist Jngennitat der Empfindung. In Her Regel lieben
es die Frauen, in das Geschäft der Männer einzugreifen, über Gott, Natur, die
Geschichte und andere Dinge zu philosophiren, woraus in der Regel sehr un¬
befriedigende Dinge hervorgehen. Diesen Fehler hat die Verfasserin ziemlich
vermieden. Zwar kommen auch einige Unterhaltungen über Literatur und ähn¬
liches vor, die nicht grade nöthig waren, im ganzen aber 'bezieht sich die Dar¬
stellung auf Empfindungen und Anschauungen, die ihr lebendig und gegenwärtig
sein konnten. Fräulein Vogel war früher anch in Leipzig als vortreffliche Sän¬
gerin bekannt; sie hat Gelegenheit gehabt, die Licht- und Schattenseiten einer
künstlerischen Thätigkeit lebhaft zu empfinden, und stellt sie mit klaren und über¬
zeugenden Farbe» dar. Zu loben ist außerdem, daß sie gegen.die Capricen eines
weiblichen Herzens, die freilich in etwas überreichen Maße auftreten, keineswegs
wehrlos ist, daß sie durch ihren Verstand und ihr Gewissen dieselben in das rechte
Licht z» stellen sucht. Zu loben ist ferner, daß sie den an sich etwas unerfreu¬
lichen Stoff, die Uebelstande einer übereilten Künstlerehe, mit so wenig Senti¬
mentalität behandelt, als irgend möglich war. In der Form herrscht noch eine
gewisse Zerflvssenheit; die Verfasserin hat noch nicht gelernt, was die Seele
fieberhaft bewegt, in einen scharfen und prägnanten Ausdruck zusammenzudrängen.
Obgleich ihre Darstellung nicht eigentlich breit ist, so vermißt man doch die ge¬
messene, in dieAugen springende Gestaltung.




Die französische Revolution von Lamartine.

I^Sö eansMugMs plrr as I^martwe. 2 Bände. Brüssel und Leipzig,
Kießling u. Comp. — Der 2. Band dieses Werks ist sehr schnell ans den ersten
gefolgt, den wir vor kurzem besprochen haben. Er übertrifft denselben bei weitem.
Zwar ist anch hier an eine originelle Feststellung der Thatsachen nicht zu denken
und wir müssen uns häufig fragen, warum eigentlich alle diese Geschichten,. die
uns aus ebenso guten Darstellungen schon früher bekannt waren, hier noch ein¬
mal erzählt werden. Allein der Inhalt dieses Bandes, der die Zeit von der
Erstürmung der Bastille bis zum Octoberzng der Pariser nach Versailles umfaßt,
bietet dem Verfasser eine viel reichhaltigere Gelegenheit, sein descriptives Talent
anzuwenden. Die großen Volksscenen sind mit unnachahmlicher Grazie erzählt,


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[0238] verknüpft ist wie im Mittelalter, das erfahren wir nicht. Es erscheint uns also in dieser individuellen Begebenheit das Meiste unwahrscheinlich, während die all¬ gemeinen Darstellungen uns vollkommen überzeugen und befriedigen. Ein Frauenleben, Roman von Elise Pvlko. 2 Bände.' Leipzig, Schlicke. — Was wir von einem Fraucnrvman zunächst erwarten, wenn wir uns für ihn interessiren sollen, ist Jngennitat der Empfindung. In Her Regel lieben es die Frauen, in das Geschäft der Männer einzugreifen, über Gott, Natur, die Geschichte und andere Dinge zu philosophiren, woraus in der Regel sehr un¬ befriedigende Dinge hervorgehen. Diesen Fehler hat die Verfasserin ziemlich vermieden. Zwar kommen auch einige Unterhaltungen über Literatur und ähn¬ liches vor, die nicht grade nöthig waren, im ganzen aber 'bezieht sich die Dar¬ stellung auf Empfindungen und Anschauungen, die ihr lebendig und gegenwärtig sein konnten. Fräulein Vogel war früher anch in Leipzig als vortreffliche Sän¬ gerin bekannt; sie hat Gelegenheit gehabt, die Licht- und Schattenseiten einer künstlerischen Thätigkeit lebhaft zu empfinden, und stellt sie mit klaren und über¬ zeugenden Farbe» dar. Zu loben ist außerdem, daß sie gegen.die Capricen eines weiblichen Herzens, die freilich in etwas überreichen Maße auftreten, keineswegs wehrlos ist, daß sie durch ihren Verstand und ihr Gewissen dieselben in das rechte Licht z» stellen sucht. Zu loben ist ferner, daß sie den an sich etwas unerfreu¬ lichen Stoff, die Uebelstande einer übereilten Künstlerehe, mit so wenig Senti¬ mentalität behandelt, als irgend möglich war. In der Form herrscht noch eine gewisse Zerflvssenheit; die Verfasserin hat noch nicht gelernt, was die Seele fieberhaft bewegt, in einen scharfen und prägnanten Ausdruck zusammenzudrängen. Obgleich ihre Darstellung nicht eigentlich breit ist, so vermißt man doch die ge¬ messene, in dieAugen springende Gestaltung. Die französische Revolution von Lamartine. I^Sö eansMugMs plrr as I^martwe. 2 Bände. Brüssel und Leipzig, Kießling u. Comp. — Der 2. Band dieses Werks ist sehr schnell ans den ersten gefolgt, den wir vor kurzem besprochen haben. Er übertrifft denselben bei weitem. Zwar ist anch hier an eine originelle Feststellung der Thatsachen nicht zu denken und wir müssen uns häufig fragen, warum eigentlich alle diese Geschichten,. die uns aus ebenso guten Darstellungen schon früher bekannt waren, hier noch ein¬ mal erzählt werden. Allein der Inhalt dieses Bandes, der die Zeit von der Erstürmung der Bastille bis zum Octoberzng der Pariser nach Versailles umfaßt, bietet dem Verfasser eine viel reichhaltigere Gelegenheit, sein descriptives Talent anzuwenden. Die großen Volksscenen sind mit unnachahmlicher Grazie erzählt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/238>, abgerufen am 05.05.2024.