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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Neue Romane
Der grüne Heinrich, Roman von Gottfried Keller, i Bände. Braun¬
schweig, Vieweg. --

Auf den ersten Blick steht imm, daß man es nicht mit einem gewöhnlichen
Romanschriftsteller zu thun hat. Ans dem Umschlag erfahren wir, daß der Ver¬
fasser früher als lyrischer Dichter aufgetreten ist. Ju der epischen Dichtung
scheint dieses Buch, nach der Vorrede, der erste Versuch zu sei". Es ist also zu
hoffen, daß die Fehler, die wir in demselben nachzuweisen bauen, uoch nicht zur
Manier verhärtet sind.

Als Vorzüge treten zwei sehr deutlich hervor. Zunächst eine feine, gebildete,
zuweilen überraschend wahre Reflexion, ein Sprühfeuer von Einfällen, die auf
individuelle Begebenheiten bezogen, doch überall in bleibende allgemein¬
menschliche Maximen sich zu verwandeln streben; sodann eine große Macht der
> Phantasie in der Schilderung einzelner ans das Gemüthsleben, namentlich aber
aus die Sinnlichkeit bezüglicher Scenen. In den verschiedenen Liebesverhältnissen,
in die wir den Helden im Lauf des Romans verwickelt sehen, ergebe" sich eine
Reihe einzelner Gemälde, welche die poetische Empfindung und das poetische Auge
des Dichters außer Zweifel stellen.

Allein auch diese Vorzüge erscheinen nicht in einer ganz reinen Form. Was
zunächst die Reflexion betrifft, so drängt sich der lyrische Dichter uoch zu sehr vor.
Ueberall sucht er die Empfindung und Betrachtung des einzelnen Moments zu
fixiren und denkt nicht daran, daß diese Momente in der epischen Poesie nur dazu
dienen können, die Begebenheiten und die Charaktere deutlich zu machen. So
werden wir gleich zu Anfang des Romans, wo der junge Held sich auf die
Wanderschaft begibt, mit einer so großen Fülle geistreicher Bemerkungen des Ver¬
fassers über das, was er darstellt, und des Helden über das, was er in Beziehung
ans verschiedene Gegenstände denkt und empfindet, überschüttet, daß unsere Auf¬
merksamkeit zerstreut wird, und daß uns die Gestalten, die wir suchen, in ganz,


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Neue Romane
Der grüne Heinrich, Roman von Gottfried Keller, i Bände. Braun¬
schweig, Vieweg. —

Auf den ersten Blick steht imm, daß man es nicht mit einem gewöhnlichen
Romanschriftsteller zu thun hat. Ans dem Umschlag erfahren wir, daß der Ver¬
fasser früher als lyrischer Dichter aufgetreten ist. Ju der epischen Dichtung
scheint dieses Buch, nach der Vorrede, der erste Versuch zu sei». Es ist also zu
hoffen, daß die Fehler, die wir in demselben nachzuweisen bauen, uoch nicht zur
Manier verhärtet sind.

Als Vorzüge treten zwei sehr deutlich hervor. Zunächst eine feine, gebildete,
zuweilen überraschend wahre Reflexion, ein Sprühfeuer von Einfällen, die auf
individuelle Begebenheiten bezogen, doch überall in bleibende allgemein¬
menschliche Maximen sich zu verwandeln streben; sodann eine große Macht der
> Phantasie in der Schilderung einzelner ans das Gemüthsleben, namentlich aber
aus die Sinnlichkeit bezüglicher Scenen. In den verschiedenen Liebesverhältnissen,
in die wir den Helden im Lauf des Romans verwickelt sehen, ergebe» sich eine
Reihe einzelner Gemälde, welche die poetische Empfindung und das poetische Auge
des Dichters außer Zweifel stellen.

Allein auch diese Vorzüge erscheinen nicht in einer ganz reinen Form. Was
zunächst die Reflexion betrifft, so drängt sich der lyrische Dichter uoch zu sehr vor.
Ueberall sucht er die Empfindung und Betrachtung des einzelnen Moments zu
fixiren und denkt nicht daran, daß diese Momente in der epischen Poesie nur dazu
dienen können, die Begebenheiten und die Charaktere deutlich zu machen. So
werden wir gleich zu Anfang des Romans, wo der junge Held sich auf die
Wanderschaft begibt, mit einer so großen Fülle geistreicher Bemerkungen des Ver¬
fassers über das, was er darstellt, und des Helden über das, was er in Beziehung
ans verschiedene Gegenstände denkt und empfindet, überschüttet, daß unsere Auf¬
merksamkeit zerstreut wird, und daß uns die Gestalten, die wir suchen, in ganz,


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[0409] Neue Romane Der grüne Heinrich, Roman von Gottfried Keller, i Bände. Braun¬ schweig, Vieweg. — Auf den ersten Blick steht imm, daß man es nicht mit einem gewöhnlichen Romanschriftsteller zu thun hat. Ans dem Umschlag erfahren wir, daß der Ver¬ fasser früher als lyrischer Dichter aufgetreten ist. Ju der epischen Dichtung scheint dieses Buch, nach der Vorrede, der erste Versuch zu sei». Es ist also zu hoffen, daß die Fehler, die wir in demselben nachzuweisen bauen, uoch nicht zur Manier verhärtet sind. Als Vorzüge treten zwei sehr deutlich hervor. Zunächst eine feine, gebildete, zuweilen überraschend wahre Reflexion, ein Sprühfeuer von Einfällen, die auf individuelle Begebenheiten bezogen, doch überall in bleibende allgemein¬ menschliche Maximen sich zu verwandeln streben; sodann eine große Macht der > Phantasie in der Schilderung einzelner ans das Gemüthsleben, namentlich aber aus die Sinnlichkeit bezüglicher Scenen. In den verschiedenen Liebesverhältnissen, in die wir den Helden im Lauf des Romans verwickelt sehen, ergebe» sich eine Reihe einzelner Gemälde, welche die poetische Empfindung und das poetische Auge des Dichters außer Zweifel stellen. Allein auch diese Vorzüge erscheinen nicht in einer ganz reinen Form. Was zunächst die Reflexion betrifft, so drängt sich der lyrische Dichter uoch zu sehr vor. Ueberall sucht er die Empfindung und Betrachtung des einzelnen Moments zu fixiren und denkt nicht daran, daß diese Momente in der epischen Poesie nur dazu dienen können, die Begebenheiten und die Charaktere deutlich zu machen. So werden wir gleich zu Anfang des Romans, wo der junge Held sich auf die Wanderschaft begibt, mit einer so großen Fülle geistreicher Bemerkungen des Ver¬ fassers über das, was er darstellt, und des Helden über das, was er in Beziehung ans verschiedene Gegenstände denkt und empfindet, überschüttet, daß unsere Auf¬ merksamkeit zerstreut wird, und daß uns die Gestalten, die wir suchen, in ganz, Greuzboteii. I- -I8si. 6-1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/409>, abgerufen am 05.05.2024.