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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Reichthum in einem Paar hohen Schifferstiefeln und einer Violine besteht,
auf welcher sie ihre Nationalmelodien, den Masmek und die Krcikovienne nach
Herzenslust abgeigcn können. Der englische Matrose in seiner Theerjacke sieht
dagegen gehalten nobler aus. -- Sowenig der äußere Eindruck befriedigt, den
Graudenz hervorzubringen geeignet ist, sobald söhnt das glücklich gepflegte ge¬
sellschaftliche Leben mit der Stadt aus und nur ungern verläßt auch der Fremde
den schnell liebgewordenen Ort.

Berühmt geworden ist das -I'/s Meile nahe Dorf Mockerau an der
Mündung der Ossa in die Weichsel, an den Bindingsbergen gelegen, die auf
verschiedenen Punkten eine überraschende Aussicht bieten. Der alte Fritz
weilte hier vorzugsweise gern, wenn er Westpreußen besuchte, was seit 1772
wol elfmal geschah; er blieb in der Regel vier Tage, hielt eine Heerschau
über die Truppen in der Provinz und beschäftigte sich eifrigst mit den An¬
gelegenheiten des neuerworbenen Landes. Zu seiner Wohnung ließ er während
der Zeit ein leichtes Häuschen aus Fachwerk mit einem Strohdach aufbauen, das
jedes Mal zur Zeit der Revue in Stand gesetzt und mit den nöthigen Möbeln
versehen wurde, welche die Bewohner der nahen Stadt mit Freuden hergaben.
Friedrich Wilhelm it. hielt diese Heerschau zweimal. Friedrich Wilhelm III. drei¬
mal, stets von der geliebten Königin Louise begleitet. Seit dem Aufhören
jener Revuen hat der Ort viel verloren.




Wir haben oft darüber Klage geführt, daß die modernen Dramatiker und
Romanschriftsteller ihre Stoffe Kreisen entnehmen, in welche ein anständiger
Mensch und vorzüglich ein Frauenzimmer nicht gern tritt. Auch mit unsrer
Einbildung möchten wir nicht gern jenen Sphären näher kommen, in denen
ein zügelloses, entartetes Geschlecht sein Unwesen treibt. Diese Klagen werden
von der Kritik hier auch von Zeit zu Zeit erhoben, ohne daß diese Einsprache
sich großen Erfolges zu erfreuen hätte. Immer wieder spielt das Lorettenlebe"
die ersten Partien. Die Erscheinung wird zum Symptom einer endemischen
Krankheit und man empfindet das Bestreben, ihr aus den Grund zu kommen.

Eine der Ursachen liegt wol darin, daß die französischen Romanschriftsteller
wie die Dramatiker auch immer wieder nur das pariser Leben schildern. Im
pariser Leben aber berührt das Lorettenthum alle Kreise und es ist kein Wunder,
wenn sich der schaffenden Einbildungskraft des Poeten Gestalten aus dieser
Welt aufdrängen, wenn er seine Helden in Bewegung setzen will. Man könnte


Reichthum in einem Paar hohen Schifferstiefeln und einer Violine besteht,
auf welcher sie ihre Nationalmelodien, den Masmek und die Krcikovienne nach
Herzenslust abgeigcn können. Der englische Matrose in seiner Theerjacke sieht
dagegen gehalten nobler aus. — Sowenig der äußere Eindruck befriedigt, den
Graudenz hervorzubringen geeignet ist, sobald söhnt das glücklich gepflegte ge¬
sellschaftliche Leben mit der Stadt aus und nur ungern verläßt auch der Fremde
den schnell liebgewordenen Ort.

Berühmt geworden ist das -I'/s Meile nahe Dorf Mockerau an der
Mündung der Ossa in die Weichsel, an den Bindingsbergen gelegen, die auf
verschiedenen Punkten eine überraschende Aussicht bieten. Der alte Fritz
weilte hier vorzugsweise gern, wenn er Westpreußen besuchte, was seit 1772
wol elfmal geschah; er blieb in der Regel vier Tage, hielt eine Heerschau
über die Truppen in der Provinz und beschäftigte sich eifrigst mit den An¬
gelegenheiten des neuerworbenen Landes. Zu seiner Wohnung ließ er während
der Zeit ein leichtes Häuschen aus Fachwerk mit einem Strohdach aufbauen, das
jedes Mal zur Zeit der Revue in Stand gesetzt und mit den nöthigen Möbeln
versehen wurde, welche die Bewohner der nahen Stadt mit Freuden hergaben.
Friedrich Wilhelm it. hielt diese Heerschau zweimal. Friedrich Wilhelm III. drei¬
mal, stets von der geliebten Königin Louise begleitet. Seit dem Aufhören
jener Revuen hat der Ort viel verloren.




Wir haben oft darüber Klage geführt, daß die modernen Dramatiker und
Romanschriftsteller ihre Stoffe Kreisen entnehmen, in welche ein anständiger
Mensch und vorzüglich ein Frauenzimmer nicht gern tritt. Auch mit unsrer
Einbildung möchten wir nicht gern jenen Sphären näher kommen, in denen
ein zügelloses, entartetes Geschlecht sein Unwesen treibt. Diese Klagen werden
von der Kritik hier auch von Zeit zu Zeit erhoben, ohne daß diese Einsprache
sich großen Erfolges zu erfreuen hätte. Immer wieder spielt das Lorettenlebe»
die ersten Partien. Die Erscheinung wird zum Symptom einer endemischen
Krankheit und man empfindet das Bestreben, ihr aus den Grund zu kommen.

Eine der Ursachen liegt wol darin, daß die französischen Romanschriftsteller
wie die Dramatiker auch immer wieder nur das pariser Leben schildern. Im
pariser Leben aber berührt das Lorettenthum alle Kreise und es ist kein Wunder,
wenn sich der schaffenden Einbildungskraft des Poeten Gestalten aus dieser
Welt aufdrängen, wenn er seine Helden in Bewegung setzen will. Man könnte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/192>, abgerufen am 28.04.2024.