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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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allerdings Begebenheiten aus der bürgerlichen Gesellschaft oder Lebensereignisse
aus der Aristokratie zum Vorwurf nehmen, aber das Buch, das so entsteht,
wird kein pariser Leben mehr behandeln -- es würde ebensogut in Berlin
seine Helden sich suchen können. Der Schriftsteller wird sich verbannt fühlen
aus seiner Heimath, die Flügel werden ihm erlahmen und mit der pariser Lust
ihm der Athem versagen.

Es ist also nicht sowol eine Schuld der französischen Literatur, wenn sie
lediglich zur Psychologie und Pathologie der Lvrette verkümmert; als eine
Schattenseite des pariser Lebens, daß es sich die Loretten und ihren Anhang
über den Hals wachsen läßt. Wenn es so fortgeht, werden wir es bald ganz
natürlich finden, daß die anständigen Menschen nur eine kleine Minorität aus¬
machen. , Die Nachsicht, die wir, gezwungen durch alles, was um uns her
vorgeht, gegen den Stoff ausüben, werden wir aber nicht auch der Auf¬
fassung dieser Zustände angedeihen lassen, wie sie uns aus den meisten moder¬
nen Dramen und Romanen entgegentritt. Wir wollen unsre Sancho Pansa-
weisheit vergessen, dem Dichter nicht mehr zurufen aus-mol cM tu Kantes et
^'e te cHrai cM tu es, aber wir werden es ihm nur dann nicht sagen, wenn er
als kein Genosse dieser verabscheuungöwerthen Gesellschaft sich uns ausführt.

Der Dichter mag seine Zeit schildern, Couture eine Orgie malen, Alexan¬
der Dumas Sohn eine aufführen lassen und nach ihm all die andern sich in
diesem Stoffe ergehen und die erstaunte Frauenwelt mit dem Feinde bekannt
machen, welcher ihrem heimlichen Glücke den Krieg erklärt hat; was wir aber
nicht dulden können, das ist diese erheuchelte Ironie, diese wohlfeile Satire, wo¬
mit man sich die Absolution zu erkaufen weiß für ein abscönes Gemälde, für
eine unsittliche Schilderung. Solches aber kann man Dumas und Con-
sorten vorwerfen. Daß man es anders machen müsse, daß man es auch
anders machen könne, davon überzeugte uns die Lectüre eines Romans:
Is seerst <Ze ?oliodlnelle von Laurent Pichat. Dieser junge Schriftsteller ist
wie die meisten Redacteure der Revue de Paris zur Hälfte ein Schüler Victor
Hugos, zur Hälfte ein Schüler Balzacs. Von jenem haben sie den phantasie¬
reichen, zuweilen überladenen Stil, von diesem das Talent der Beobachtung
und den Muth, zu sagen was sie sahen -- mag es auch in den Ohren
menschlicher Eigenliebe noch so hart klingen. Fügen wir hinzu, daß Pichat
wenigstens kein so gründlicher Pessimismus wie seinem genialen Lehrer Balzac
nachgesagt werden kann. Dazu ist er zu jung, dazu ist er auch zu wenig Aristo¬
krat. Bei Pichat leuchtet nicht blos aus dem Hasse, womit er das Schlechte
verdammt, seine Liebe des Guten hervor. Die Hoffnung auf eine bessere Zu¬
kunft ist der Grundcharakter seines Wesens und diese Hoffnung läßt ihn die
schlechten Zustände des Augenblicks mit viel Humor ertragen, was sonst' bei
einem so liebenden Gemüthe ganz unmöglich wäre.


Grenzboten. IV. -1863. 24

allerdings Begebenheiten aus der bürgerlichen Gesellschaft oder Lebensereignisse
aus der Aristokratie zum Vorwurf nehmen, aber das Buch, das so entsteht,
wird kein pariser Leben mehr behandeln — es würde ebensogut in Berlin
seine Helden sich suchen können. Der Schriftsteller wird sich verbannt fühlen
aus seiner Heimath, die Flügel werden ihm erlahmen und mit der pariser Lust
ihm der Athem versagen.

Es ist also nicht sowol eine Schuld der französischen Literatur, wenn sie
lediglich zur Psychologie und Pathologie der Lvrette verkümmert; als eine
Schattenseite des pariser Lebens, daß es sich die Loretten und ihren Anhang
über den Hals wachsen läßt. Wenn es so fortgeht, werden wir es bald ganz
natürlich finden, daß die anständigen Menschen nur eine kleine Minorität aus¬
machen. , Die Nachsicht, die wir, gezwungen durch alles, was um uns her
vorgeht, gegen den Stoff ausüben, werden wir aber nicht auch der Auf¬
fassung dieser Zustände angedeihen lassen, wie sie uns aus den meisten moder¬
nen Dramen und Romanen entgegentritt. Wir wollen unsre Sancho Pansa-
weisheit vergessen, dem Dichter nicht mehr zurufen aus-mol cM tu Kantes et
^'e te cHrai cM tu es, aber wir werden es ihm nur dann nicht sagen, wenn er
als kein Genosse dieser verabscheuungöwerthen Gesellschaft sich uns ausführt.

Der Dichter mag seine Zeit schildern, Couture eine Orgie malen, Alexan¬
der Dumas Sohn eine aufführen lassen und nach ihm all die andern sich in
diesem Stoffe ergehen und die erstaunte Frauenwelt mit dem Feinde bekannt
machen, welcher ihrem heimlichen Glücke den Krieg erklärt hat; was wir aber
nicht dulden können, das ist diese erheuchelte Ironie, diese wohlfeile Satire, wo¬
mit man sich die Absolution zu erkaufen weiß für ein abscönes Gemälde, für
eine unsittliche Schilderung. Solches aber kann man Dumas und Con-
sorten vorwerfen. Daß man es anders machen müsse, daß man es auch
anders machen könne, davon überzeugte uns die Lectüre eines Romans:
Is seerst <Ze ?oliodlnelle von Laurent Pichat. Dieser junge Schriftsteller ist
wie die meisten Redacteure der Revue de Paris zur Hälfte ein Schüler Victor
Hugos, zur Hälfte ein Schüler Balzacs. Von jenem haben sie den phantasie¬
reichen, zuweilen überladenen Stil, von diesem das Talent der Beobachtung
und den Muth, zu sagen was sie sahen — mag es auch in den Ohren
menschlicher Eigenliebe noch so hart klingen. Fügen wir hinzu, daß Pichat
wenigstens kein so gründlicher Pessimismus wie seinem genialen Lehrer Balzac
nachgesagt werden kann. Dazu ist er zu jung, dazu ist er auch zu wenig Aristo¬
krat. Bei Pichat leuchtet nicht blos aus dem Hasse, womit er das Schlechte
verdammt, seine Liebe des Guten hervor. Die Hoffnung auf eine bessere Zu¬
kunft ist der Grundcharakter seines Wesens und diese Hoffnung läßt ihn die
schlechten Zustände des Augenblicks mit viel Humor ertragen, was sonst' bei
einem so liebenden Gemüthe ganz unmöglich wäre.


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[0193] allerdings Begebenheiten aus der bürgerlichen Gesellschaft oder Lebensereignisse aus der Aristokratie zum Vorwurf nehmen, aber das Buch, das so entsteht, wird kein pariser Leben mehr behandeln — es würde ebensogut in Berlin seine Helden sich suchen können. Der Schriftsteller wird sich verbannt fühlen aus seiner Heimath, die Flügel werden ihm erlahmen und mit der pariser Lust ihm der Athem versagen. Es ist also nicht sowol eine Schuld der französischen Literatur, wenn sie lediglich zur Psychologie und Pathologie der Lvrette verkümmert; als eine Schattenseite des pariser Lebens, daß es sich die Loretten und ihren Anhang über den Hals wachsen läßt. Wenn es so fortgeht, werden wir es bald ganz natürlich finden, daß die anständigen Menschen nur eine kleine Minorität aus¬ machen. , Die Nachsicht, die wir, gezwungen durch alles, was um uns her vorgeht, gegen den Stoff ausüben, werden wir aber nicht auch der Auf¬ fassung dieser Zustände angedeihen lassen, wie sie uns aus den meisten moder¬ nen Dramen und Romanen entgegentritt. Wir wollen unsre Sancho Pansa- weisheit vergessen, dem Dichter nicht mehr zurufen aus-mol cM tu Kantes et ^'e te cHrai cM tu es, aber wir werden es ihm nur dann nicht sagen, wenn er als kein Genosse dieser verabscheuungöwerthen Gesellschaft sich uns ausführt. Der Dichter mag seine Zeit schildern, Couture eine Orgie malen, Alexan¬ der Dumas Sohn eine aufführen lassen und nach ihm all die andern sich in diesem Stoffe ergehen und die erstaunte Frauenwelt mit dem Feinde bekannt machen, welcher ihrem heimlichen Glücke den Krieg erklärt hat; was wir aber nicht dulden können, das ist diese erheuchelte Ironie, diese wohlfeile Satire, wo¬ mit man sich die Absolution zu erkaufen weiß für ein abscönes Gemälde, für eine unsittliche Schilderung. Solches aber kann man Dumas und Con- sorten vorwerfen. Daß man es anders machen müsse, daß man es auch anders machen könne, davon überzeugte uns die Lectüre eines Romans: Is seerst <Ze ?oliodlnelle von Laurent Pichat. Dieser junge Schriftsteller ist wie die meisten Redacteure der Revue de Paris zur Hälfte ein Schüler Victor Hugos, zur Hälfte ein Schüler Balzacs. Von jenem haben sie den phantasie¬ reichen, zuweilen überladenen Stil, von diesem das Talent der Beobachtung und den Muth, zu sagen was sie sahen — mag es auch in den Ohren menschlicher Eigenliebe noch so hart klingen. Fügen wir hinzu, daß Pichat wenigstens kein so gründlicher Pessimismus wie seinem genialen Lehrer Balzac nachgesagt werden kann. Dazu ist er zu jung, dazu ist er auch zu wenig Aristo¬ krat. Bei Pichat leuchtet nicht blos aus dem Hasse, womit er das Schlechte verdammt, seine Liebe des Guten hervor. Die Hoffnung auf eine bessere Zu¬ kunft ist der Grundcharakter seines Wesens und diese Hoffnung läßt ihn die schlechten Zustände des Augenblicks mit viel Humor ertragen, was sonst' bei einem so liebenden Gemüthe ganz unmöglich wäre. Grenzboten. IV. -1863. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/193>, abgerufen am 11.05.2024.