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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Die Rätin Wissenschaft und die Gegenwart.

Der Grund, weshalb wir neuerdings häufiger das Verhältniß der Natur¬
wissenschaften zur allgemeinen Bildung besprechen, liegt darin, daß sich darüber
selbst bei den gebildetsten Personen unrichtige Ansichten festgesetzt haben und
daß wir deshalb befürchten, man möge den geistigen Einfluß ihrer weiteren
Entwicklung für ebenso verderblich halten, wie ihr reeller Nutzen für die Men¬
schen offenkundig ist. Von vornherein wird es freilich unglaublich erscheinen
müssen, daß dieselbe Wissenschaft, mit andern Worten dieselbe geistige Thätig¬
keit, welche die großen, von niemandem verwünschten Erfindungen der Neuzeit
geschaffen hat, durch ihren unmittelbaren physischen Einfluß Verderben, größer als
jener reelle Nutzen, stiften sollte -- dennoch haben sich solche Befürchtungen als
möglich herausgestellt. Kampf gegen den Materialismus ist der Wahlspruch
von Parteien geworden und soweit ist es gekommen, daß man in diesem Worte
gemeine Habsucht und die mühsamen, uneigennützigen Bestrebungen großer Natur¬
forscher zusammengeworfen hat. Wenn Manche geneigt sind, wegen verschie¬
dener auffallender Uebel den großen merkantilischen Unternehmungsgeist unsrer
Zeit als bloße Habsucht zu verdammen und sowol dessen Nutzen als Unent-
behrlichkeit zu verkennen, so ist doch dieser Irrthum verschwindend gegen das
jenen Männern, angethane Unrecht. Unser gemüthreiches Volk läßt sich gar
zu leicht einnehmen gegen alles, wobei keine Thätigkeit des Gemüths zu er¬
kennen ist und was hätten wol die angeblich trocknen Verstandesoperationen
der Naturforschung mit jenem zu thun? Aber wir erinnern uns zur Antwort
nur der Astronomie, welche uns die Unendlichkeit der Schöpfung aufgeschlossen,
uns von der Allmacht eine Ahnung gegeben und uns mit Freude über die
uns von Gott geschenkte Fähigkeit erfüllt hat, reine Erkenntniß zu lieben und
zu üben. Das Gemüth des Platonikers Keppler, des "christlich-germanischen"
Newton mag bei der ersten Anschauung ihrer großen Entdeckungen noch ganz
anders bewegt worden sein, als das unsre, indem wir ihnen nachdenken. Ohne
Aufopferung, ohne Liebe, ohne Begeisterung kann in den Naturwissenschaften
ebensowenig etwas geleistet werden, als sonstwo und mag sich auch häufig per¬
sönliche Eitelkeit und weltliches Interesse einmischen, so hat doch bloße Selbst-


Grenzboten. I. I8t>ö. 36
Die Rätin Wissenschaft und die Gegenwart.

Der Grund, weshalb wir neuerdings häufiger das Verhältniß der Natur¬
wissenschaften zur allgemeinen Bildung besprechen, liegt darin, daß sich darüber
selbst bei den gebildetsten Personen unrichtige Ansichten festgesetzt haben und
daß wir deshalb befürchten, man möge den geistigen Einfluß ihrer weiteren
Entwicklung für ebenso verderblich halten, wie ihr reeller Nutzen für die Men¬
schen offenkundig ist. Von vornherein wird es freilich unglaublich erscheinen
müssen, daß dieselbe Wissenschaft, mit andern Worten dieselbe geistige Thätig¬
keit, welche die großen, von niemandem verwünschten Erfindungen der Neuzeit
geschaffen hat, durch ihren unmittelbaren physischen Einfluß Verderben, größer als
jener reelle Nutzen, stiften sollte — dennoch haben sich solche Befürchtungen als
möglich herausgestellt. Kampf gegen den Materialismus ist der Wahlspruch
von Parteien geworden und soweit ist es gekommen, daß man in diesem Worte
gemeine Habsucht und die mühsamen, uneigennützigen Bestrebungen großer Natur¬
forscher zusammengeworfen hat. Wenn Manche geneigt sind, wegen verschie¬
dener auffallender Uebel den großen merkantilischen Unternehmungsgeist unsrer
Zeit als bloße Habsucht zu verdammen und sowol dessen Nutzen als Unent-
behrlichkeit zu verkennen, so ist doch dieser Irrthum verschwindend gegen das
jenen Männern, angethane Unrecht. Unser gemüthreiches Volk läßt sich gar
zu leicht einnehmen gegen alles, wobei keine Thätigkeit des Gemüths zu er¬
kennen ist und was hätten wol die angeblich trocknen Verstandesoperationen
der Naturforschung mit jenem zu thun? Aber wir erinnern uns zur Antwort
nur der Astronomie, welche uns die Unendlichkeit der Schöpfung aufgeschlossen,
uns von der Allmacht eine Ahnung gegeben und uns mit Freude über die
uns von Gott geschenkte Fähigkeit erfüllt hat, reine Erkenntniß zu lieben und
zu üben. Das Gemüth des Platonikers Keppler, des „christlich-germanischen"
Newton mag bei der ersten Anschauung ihrer großen Entdeckungen noch ganz
anders bewegt worden sein, als das unsre, indem wir ihnen nachdenken. Ohne
Aufopferung, ohne Liebe, ohne Begeisterung kann in den Naturwissenschaften
ebensowenig etwas geleistet werden, als sonstwo und mag sich auch häufig per¬
sönliche Eitelkeit und weltliches Interesse einmischen, so hat doch bloße Selbst-


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[0289] Die Rätin Wissenschaft und die Gegenwart. Der Grund, weshalb wir neuerdings häufiger das Verhältniß der Natur¬ wissenschaften zur allgemeinen Bildung besprechen, liegt darin, daß sich darüber selbst bei den gebildetsten Personen unrichtige Ansichten festgesetzt haben und daß wir deshalb befürchten, man möge den geistigen Einfluß ihrer weiteren Entwicklung für ebenso verderblich halten, wie ihr reeller Nutzen für die Men¬ schen offenkundig ist. Von vornherein wird es freilich unglaublich erscheinen müssen, daß dieselbe Wissenschaft, mit andern Worten dieselbe geistige Thätig¬ keit, welche die großen, von niemandem verwünschten Erfindungen der Neuzeit geschaffen hat, durch ihren unmittelbaren physischen Einfluß Verderben, größer als jener reelle Nutzen, stiften sollte — dennoch haben sich solche Befürchtungen als möglich herausgestellt. Kampf gegen den Materialismus ist der Wahlspruch von Parteien geworden und soweit ist es gekommen, daß man in diesem Worte gemeine Habsucht und die mühsamen, uneigennützigen Bestrebungen großer Natur¬ forscher zusammengeworfen hat. Wenn Manche geneigt sind, wegen verschie¬ dener auffallender Uebel den großen merkantilischen Unternehmungsgeist unsrer Zeit als bloße Habsucht zu verdammen und sowol dessen Nutzen als Unent- behrlichkeit zu verkennen, so ist doch dieser Irrthum verschwindend gegen das jenen Männern, angethane Unrecht. Unser gemüthreiches Volk läßt sich gar zu leicht einnehmen gegen alles, wobei keine Thätigkeit des Gemüths zu er¬ kennen ist und was hätten wol die angeblich trocknen Verstandesoperationen der Naturforschung mit jenem zu thun? Aber wir erinnern uns zur Antwort nur der Astronomie, welche uns die Unendlichkeit der Schöpfung aufgeschlossen, uns von der Allmacht eine Ahnung gegeben und uns mit Freude über die uns von Gott geschenkte Fähigkeit erfüllt hat, reine Erkenntniß zu lieben und zu üben. Das Gemüth des Platonikers Keppler, des „christlich-germanischen" Newton mag bei der ersten Anschauung ihrer großen Entdeckungen noch ganz anders bewegt worden sein, als das unsre, indem wir ihnen nachdenken. Ohne Aufopferung, ohne Liebe, ohne Begeisterung kann in den Naturwissenschaften ebensowenig etwas geleistet werden, als sonstwo und mag sich auch häufig per¬ sönliche Eitelkeit und weltliches Interesse einmischen, so hat doch bloße Selbst- Grenzboten. I. I8t>ö. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/289>, abgerufen am 06.05.2024.