Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sucht immer noch zu einem kläglichen Ausgange geführt. Bei dem Bemühen
die Wahrheit zu suchen, kann das Gemüth unmöglich ganz müßig sein, ja
selbst sür die Mathematik, so sonderbar es klingen mag, wird man dies behaup¬
ten müssen -- der Eindruck ihres sichern, reinen Denkens, die Vorstellung ihrer
außerordentlichen Resultate muß für jeden bewältigend sein, der die Erkenntniß
der Schöpfung sich zur Aufgabe stellt. Wir sühlen ganz mit einem für seine
Wissenschaft begeisterten mathematischen Schriftsteller (Lübsen), wenn er zur Ein¬
leitung seiner Schriften sagt: "und so schließen wir nach und nach die Pforten
derjenigen Wissenschaft auf, welche uns mit dem Himmel in Bevbindung setzt."

Es wäre zu viel verlangt, wollte man von den Naturwissenschaften eine
unmittelbare Erregung des Gemüths erwarten; nur der Kunst ist eine solche
Aufgabe zu stellen. Möglich erscheint es aber, daß die Kunst aus der An¬
schauung der Naturgeheimnisse, welche die Wissenschaft zugänglich gemacht hat,
ebensowol Stoff schöpfen könnte, als aus dem unmittelbaren sinnlichen Eindrnck,
Die Baukunst z. B, könnte ebensogut die nur durch das Mikroskop erkennbaren
Formen verwenden, wie sie die unmittelbar wahrnehmbaren vielfach verwendet
hat; in die bildenden Künste hat sich seit lange die Anatomie als nothwendiger
Lehrgegenstand eingeführt und den meisten bildenden Künstlern wäre es zu
wünschen, daß sie die innere und äußere Gestaltung mannigfacher Natur¬
objecte besser als bisher kennen lernten. Selbst die Dichter könnten sich mög¬
licherweise an der Betrachtung der Tiefen der Schöpfung begeistern und wenn
wirklich, wie Goethe sagt, jeder Dichter einen gewissen Stoff erschöpft und sei¬
nen Nachfolgern davon nur wenig übrigläßt, so könnte man hoffen, aus der
genauere" Bekauntschaft mit der Natur neue, bisher noch unausgesungene dich¬
terische Stoffe zu gewinnen. So würde ferner für jeden Künstler eine Kenntniß
der Psychologie sehr förderlich sein, wenn eine solche als Wissenschaft bereits
eristirte.

Aber das ist auch alles; wir wagen nicht zu beurtheilen, welchen Stoff
ein künstlerischer Genius möglicherweise aus der Naturwissenschaft würde ziehen
können, aber außer der erhabenen Anschauung des Unendlichen, außer dem Er¬
blicken schöner Formen durch künstliche Werkzeuge, außer der Begeisterung der
Naturforscher für ihre große Aufgabe und außer der Bewunderung menschlicher
Hingebung und Scharfsinnes wüßten wir keine unmittelbaren Einwirkungen
der Naturforschung auf das Gemüth aufzuzählen. Insofern sie aber auf das
Unendliche hinführt, ist sie offenbar in hohem Grade geeignet, religiöse Gefühle
zu erwecken.

Bedeutender tritt die Naturwissenschaft als kritisches Hilfsmittel der Künste
auf. Wir dürfen z. B. nur an die Perspective erinnern, sowie daran, daß op¬
tische Instrumente, neuerdings besonders Daguereotypieapparate, von bedeuten¬
den Künstlern zur Erzielung plastischer Anschauungen viel benutzt werden. Die


sucht immer noch zu einem kläglichen Ausgange geführt. Bei dem Bemühen
die Wahrheit zu suchen, kann das Gemüth unmöglich ganz müßig sein, ja
selbst sür die Mathematik, so sonderbar es klingen mag, wird man dies behaup¬
ten müssen — der Eindruck ihres sichern, reinen Denkens, die Vorstellung ihrer
außerordentlichen Resultate muß für jeden bewältigend sein, der die Erkenntniß
der Schöpfung sich zur Aufgabe stellt. Wir sühlen ganz mit einem für seine
Wissenschaft begeisterten mathematischen Schriftsteller (Lübsen), wenn er zur Ein¬
leitung seiner Schriften sagt: „und so schließen wir nach und nach die Pforten
derjenigen Wissenschaft auf, welche uns mit dem Himmel in Bevbindung setzt."

Es wäre zu viel verlangt, wollte man von den Naturwissenschaften eine
unmittelbare Erregung des Gemüths erwarten; nur der Kunst ist eine solche
Aufgabe zu stellen. Möglich erscheint es aber, daß die Kunst aus der An¬
schauung der Naturgeheimnisse, welche die Wissenschaft zugänglich gemacht hat,
ebensowol Stoff schöpfen könnte, als aus dem unmittelbaren sinnlichen Eindrnck,
Die Baukunst z. B, könnte ebensogut die nur durch das Mikroskop erkennbaren
Formen verwenden, wie sie die unmittelbar wahrnehmbaren vielfach verwendet
hat; in die bildenden Künste hat sich seit lange die Anatomie als nothwendiger
Lehrgegenstand eingeführt und den meisten bildenden Künstlern wäre es zu
wünschen, daß sie die innere und äußere Gestaltung mannigfacher Natur¬
objecte besser als bisher kennen lernten. Selbst die Dichter könnten sich mög¬
licherweise an der Betrachtung der Tiefen der Schöpfung begeistern und wenn
wirklich, wie Goethe sagt, jeder Dichter einen gewissen Stoff erschöpft und sei¬
nen Nachfolgern davon nur wenig übrigläßt, so könnte man hoffen, aus der
genauere» Bekauntschaft mit der Natur neue, bisher noch unausgesungene dich¬
terische Stoffe zu gewinnen. So würde ferner für jeden Künstler eine Kenntniß
der Psychologie sehr förderlich sein, wenn eine solche als Wissenschaft bereits
eristirte.

Aber das ist auch alles; wir wagen nicht zu beurtheilen, welchen Stoff
ein künstlerischer Genius möglicherweise aus der Naturwissenschaft würde ziehen
können, aber außer der erhabenen Anschauung des Unendlichen, außer dem Er¬
blicken schöner Formen durch künstliche Werkzeuge, außer der Begeisterung der
Naturforscher für ihre große Aufgabe und außer der Bewunderung menschlicher
Hingebung und Scharfsinnes wüßten wir keine unmittelbaren Einwirkungen
der Naturforschung auf das Gemüth aufzuzählen. Insofern sie aber auf das
Unendliche hinführt, ist sie offenbar in hohem Grade geeignet, religiöse Gefühle
zu erwecken.

Bedeutender tritt die Naturwissenschaft als kritisches Hilfsmittel der Künste
auf. Wir dürfen z. B. nur an die Perspective erinnern, sowie daran, daß op¬
tische Instrumente, neuerdings besonders Daguereotypieapparate, von bedeuten¬
den Künstlern zur Erzielung plastischer Anschauungen viel benutzt werden. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99142"/>
          <p xml:id="ID_1021" prev="#ID_1020"> sucht immer noch zu einem kläglichen Ausgange geführt. Bei dem Bemühen<lb/>
die Wahrheit zu suchen, kann das Gemüth unmöglich ganz müßig sein, ja<lb/>
selbst sür die Mathematik, so sonderbar es klingen mag, wird man dies behaup¬<lb/>
ten müssen &#x2014; der Eindruck ihres sichern, reinen Denkens, die Vorstellung ihrer<lb/>
außerordentlichen Resultate muß für jeden bewältigend sein, der die Erkenntniß<lb/>
der Schöpfung sich zur Aufgabe stellt. Wir sühlen ganz mit einem für seine<lb/>
Wissenschaft begeisterten mathematischen Schriftsteller (Lübsen), wenn er zur Ein¬<lb/>
leitung seiner Schriften sagt: &#x201E;und so schließen wir nach und nach die Pforten<lb/>
derjenigen Wissenschaft auf, welche uns mit dem Himmel in Bevbindung setzt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1022"> Es wäre zu viel verlangt, wollte man von den Naturwissenschaften eine<lb/>
unmittelbare Erregung des Gemüths erwarten; nur der Kunst ist eine solche<lb/>
Aufgabe zu stellen. Möglich erscheint es aber, daß die Kunst aus der An¬<lb/>
schauung der Naturgeheimnisse, welche die Wissenschaft zugänglich gemacht hat,<lb/>
ebensowol Stoff schöpfen könnte, als aus dem unmittelbaren sinnlichen Eindrnck,<lb/>
Die Baukunst z. B, könnte ebensogut die nur durch das Mikroskop erkennbaren<lb/>
Formen verwenden, wie sie die unmittelbar wahrnehmbaren vielfach verwendet<lb/>
hat; in die bildenden Künste hat sich seit lange die Anatomie als nothwendiger<lb/>
Lehrgegenstand eingeführt und den meisten bildenden Künstlern wäre es zu<lb/>
wünschen, daß sie die innere und äußere Gestaltung mannigfacher Natur¬<lb/>
objecte besser als bisher kennen lernten. Selbst die Dichter könnten sich mög¬<lb/>
licherweise an der Betrachtung der Tiefen der Schöpfung begeistern und wenn<lb/>
wirklich, wie Goethe sagt, jeder Dichter einen gewissen Stoff erschöpft und sei¬<lb/>
nen Nachfolgern davon nur wenig übrigläßt, so könnte man hoffen, aus der<lb/>
genauere» Bekauntschaft mit der Natur neue, bisher noch unausgesungene dich¬<lb/>
terische Stoffe zu gewinnen. So würde ferner für jeden Künstler eine Kenntniß<lb/>
der Psychologie sehr förderlich sein, wenn eine solche als Wissenschaft bereits<lb/>
eristirte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1023"> Aber das ist auch alles; wir wagen nicht zu beurtheilen, welchen Stoff<lb/>
ein künstlerischer Genius möglicherweise aus der Naturwissenschaft würde ziehen<lb/>
können, aber außer der erhabenen Anschauung des Unendlichen, außer dem Er¬<lb/>
blicken schöner Formen durch künstliche Werkzeuge, außer der Begeisterung der<lb/>
Naturforscher für ihre große Aufgabe und außer der Bewunderung menschlicher<lb/>
Hingebung und Scharfsinnes wüßten wir keine unmittelbaren Einwirkungen<lb/>
der Naturforschung auf das Gemüth aufzuzählen. Insofern sie aber auf das<lb/>
Unendliche hinführt, ist sie offenbar in hohem Grade geeignet, religiöse Gefühle<lb/>
zu erwecken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1024" next="#ID_1025"> Bedeutender tritt die Naturwissenschaft als kritisches Hilfsmittel der Künste<lb/>
auf. Wir dürfen z. B. nur an die Perspective erinnern, sowie daran, daß op¬<lb/>
tische Instrumente, neuerdings besonders Daguereotypieapparate, von bedeuten¬<lb/>
den Künstlern zur Erzielung plastischer Anschauungen viel benutzt werden. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] sucht immer noch zu einem kläglichen Ausgange geführt. Bei dem Bemühen die Wahrheit zu suchen, kann das Gemüth unmöglich ganz müßig sein, ja selbst sür die Mathematik, so sonderbar es klingen mag, wird man dies behaup¬ ten müssen — der Eindruck ihres sichern, reinen Denkens, die Vorstellung ihrer außerordentlichen Resultate muß für jeden bewältigend sein, der die Erkenntniß der Schöpfung sich zur Aufgabe stellt. Wir sühlen ganz mit einem für seine Wissenschaft begeisterten mathematischen Schriftsteller (Lübsen), wenn er zur Ein¬ leitung seiner Schriften sagt: „und so schließen wir nach und nach die Pforten derjenigen Wissenschaft auf, welche uns mit dem Himmel in Bevbindung setzt." Es wäre zu viel verlangt, wollte man von den Naturwissenschaften eine unmittelbare Erregung des Gemüths erwarten; nur der Kunst ist eine solche Aufgabe zu stellen. Möglich erscheint es aber, daß die Kunst aus der An¬ schauung der Naturgeheimnisse, welche die Wissenschaft zugänglich gemacht hat, ebensowol Stoff schöpfen könnte, als aus dem unmittelbaren sinnlichen Eindrnck, Die Baukunst z. B, könnte ebensogut die nur durch das Mikroskop erkennbaren Formen verwenden, wie sie die unmittelbar wahrnehmbaren vielfach verwendet hat; in die bildenden Künste hat sich seit lange die Anatomie als nothwendiger Lehrgegenstand eingeführt und den meisten bildenden Künstlern wäre es zu wünschen, daß sie die innere und äußere Gestaltung mannigfacher Natur¬ objecte besser als bisher kennen lernten. Selbst die Dichter könnten sich mög¬ licherweise an der Betrachtung der Tiefen der Schöpfung begeistern und wenn wirklich, wie Goethe sagt, jeder Dichter einen gewissen Stoff erschöpft und sei¬ nen Nachfolgern davon nur wenig übrigläßt, so könnte man hoffen, aus der genauere» Bekauntschaft mit der Natur neue, bisher noch unausgesungene dich¬ terische Stoffe zu gewinnen. So würde ferner für jeden Künstler eine Kenntniß der Psychologie sehr förderlich sein, wenn eine solche als Wissenschaft bereits eristirte. Aber das ist auch alles; wir wagen nicht zu beurtheilen, welchen Stoff ein künstlerischer Genius möglicherweise aus der Naturwissenschaft würde ziehen können, aber außer der erhabenen Anschauung des Unendlichen, außer dem Er¬ blicken schöner Formen durch künstliche Werkzeuge, außer der Begeisterung der Naturforscher für ihre große Aufgabe und außer der Bewunderung menschlicher Hingebung und Scharfsinnes wüßten wir keine unmittelbaren Einwirkungen der Naturforschung auf das Gemüth aufzuzählen. Insofern sie aber auf das Unendliche hinführt, ist sie offenbar in hohem Grade geeignet, religiöse Gefühle zu erwecken. Bedeutender tritt die Naturwissenschaft als kritisches Hilfsmittel der Künste auf. Wir dürfen z. B. nur an die Perspective erinnern, sowie daran, daß op¬ tische Instrumente, neuerdings besonders Daguereotypieapparate, von bedeuten¬ den Künstlern zur Erzielung plastischer Anschauungen viel benutzt werden. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/290>, abgerufen am 19.05.2024.