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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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poetisch zu pfuschen versucht. Wenn der Kritiker eine poetische Ader hat, so
möge er versuchen, dieser in wirklichen Dichtungen Luft zu machen, und wenn
der Dichter sich gedrungen fühlt, sein Urtheil geltendzumachen, so möge er
es in derselben Art motiviren, wie der ehrliche Kritiker. Die Zeit der Xenien
ist ebenso vorüber, wie die Zeit der Herzensergießungen; beides war doch
eigentlich auch nur eine Verirrung des Geschmacks. -- Wir können uns nicht
enthalten, noch eine andere Stelle aus jenem Aufsatz von Goethe auszuschreiben,
weil sie die Hauptsache enthält, welche man dem schwächlichen Uebermuth
unsrer heutigen kleinen Poeten immer von neuem entgegenhalten muß. Goethe
spricht von dem Inhalt der modernen Lyriker und sährt dann sort: "Leider
hat ein wohlwollender Beobachter gar bald zu bemerken, daß ein inneres
jugendliches Behagen auf einmal abnimmt, daß Trauer über verschwundene
Freuden, Schmachten nach dem Verlornen, Sehnsucht nach dem Ungekannten,
Unerreichbarem, Mißmuth, Jnvectiven gegen Hindernisse jeder Art, Kampf
gegen Mißgunst, Neid und Verfolgung die klare Quelle trübt, und so sehen
wir die heitere Gesellschaft sich vereinzelnen und sich zerstreuen in misanthro¬
pische Eremiten. Wie schwer ist es daher, dem Talente jeder Art und jedes
Grades begreiflich zu machen: daß die Muse das Leben zwar gern
begleitet, aber es keineswegs zu leiten versteht." --


Napoleon III. und die gegenwärtige Weltkrisis vom deutschen Stand¬
punkte. Leipzig, Remmelmann. --

Der Verfasser sucht nachzuweisen, daß der Kaiser Napoleon der vortreff¬
lichste Herrscher von der Welt sei und daß Frankreich sich nie so glücklich be¬
funden habe, als jetzt. Nun wäre an sich ja nichts dagegen zu sagen, denn
wir haben alle Ursache, mit dem Kaiser Napoleon in gutem Einvernehmen zu
leben, und es ist uns für den Augenblick sehr gelegen und bequem, daß
Frankreich eine vorwiegend militärische Verfassung hat, da dieser Umstand
allein einen erfolgreichen Kampf gegen Nußland möglich macht. Wir wünschen
auf das lebhafteste, daß eS dem Kaiser gelingen möge, seine Herrschaft dauernd
zu befestigen, denn wir haben die volle Ueberzeugung gewonnen, daß alle
Revolutionen in Frankreich nicht das mindeste fruchten. Wenn heute die
Orleans auf den Thron kommen oder das Kind des Mirakels oder wenn
die Republik eingerichtet wird, so geht morgen die alte Geschichte von
neuem los. Allein wir sind der Ueberzeugung, daß man das neue Re¬
giment am besten stützt, wenn man es als eine vollendete Thatsache hin¬
nimmt und sich über die Entstehung desselben :c. keine Gedanken macht.
Eine zu weit ausgedehnte Apologie schadet ihrem Zweck, denn sie ruft die
natürliche Reaction hervor. Einmal finden wir es unrecht, daß man, um
den Kaiser zu erheben, seine Vorgänger, die Orleans schmäht; sodann finden


poetisch zu pfuschen versucht. Wenn der Kritiker eine poetische Ader hat, so
möge er versuchen, dieser in wirklichen Dichtungen Luft zu machen, und wenn
der Dichter sich gedrungen fühlt, sein Urtheil geltendzumachen, so möge er
es in derselben Art motiviren, wie der ehrliche Kritiker. Die Zeit der Xenien
ist ebenso vorüber, wie die Zeit der Herzensergießungen; beides war doch
eigentlich auch nur eine Verirrung des Geschmacks. — Wir können uns nicht
enthalten, noch eine andere Stelle aus jenem Aufsatz von Goethe auszuschreiben,
weil sie die Hauptsache enthält, welche man dem schwächlichen Uebermuth
unsrer heutigen kleinen Poeten immer von neuem entgegenhalten muß. Goethe
spricht von dem Inhalt der modernen Lyriker und sährt dann sort: „Leider
hat ein wohlwollender Beobachter gar bald zu bemerken, daß ein inneres
jugendliches Behagen auf einmal abnimmt, daß Trauer über verschwundene
Freuden, Schmachten nach dem Verlornen, Sehnsucht nach dem Ungekannten,
Unerreichbarem, Mißmuth, Jnvectiven gegen Hindernisse jeder Art, Kampf
gegen Mißgunst, Neid und Verfolgung die klare Quelle trübt, und so sehen
wir die heitere Gesellschaft sich vereinzelnen und sich zerstreuen in misanthro¬
pische Eremiten. Wie schwer ist es daher, dem Talente jeder Art und jedes
Grades begreiflich zu machen: daß die Muse das Leben zwar gern
begleitet, aber es keineswegs zu leiten versteht." —


Napoleon III. und die gegenwärtige Weltkrisis vom deutschen Stand¬
punkte. Leipzig, Remmelmann. —

Der Verfasser sucht nachzuweisen, daß der Kaiser Napoleon der vortreff¬
lichste Herrscher von der Welt sei und daß Frankreich sich nie so glücklich be¬
funden habe, als jetzt. Nun wäre an sich ja nichts dagegen zu sagen, denn
wir haben alle Ursache, mit dem Kaiser Napoleon in gutem Einvernehmen zu
leben, und es ist uns für den Augenblick sehr gelegen und bequem, daß
Frankreich eine vorwiegend militärische Verfassung hat, da dieser Umstand
allein einen erfolgreichen Kampf gegen Nußland möglich macht. Wir wünschen
auf das lebhafteste, daß eS dem Kaiser gelingen möge, seine Herrschaft dauernd
zu befestigen, denn wir haben die volle Ueberzeugung gewonnen, daß alle
Revolutionen in Frankreich nicht das mindeste fruchten. Wenn heute die
Orleans auf den Thron kommen oder das Kind des Mirakels oder wenn
die Republik eingerichtet wird, so geht morgen die alte Geschichte von
neuem los. Allein wir sind der Ueberzeugung, daß man das neue Re¬
giment am besten stützt, wenn man es als eine vollendete Thatsache hin¬
nimmt und sich über die Entstehung desselben :c. keine Gedanken macht.
Eine zu weit ausgedehnte Apologie schadet ihrem Zweck, denn sie ruft die
natürliche Reaction hervor. Einmal finden wir es unrecht, daß man, um
den Kaiser zu erheben, seine Vorgänger, die Orleans schmäht; sodann finden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/349>, abgerufen am 05.05.2024.