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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Der Tod des Kaisers von Rußland.

In früheren Zeiten, wo man noch glaubte, daß auch in den Mächten der
Natur der Einfluß einer geistigen Bewegung nachzittere, ging die Sage, daß
bei jedem großen Ereigniß in der Menschenwelt sich auf eine wunderbare Weise
die Anzeichen fortpflanzten, und daß man es in den entferntesten Gegenden
empfände, lange bevor die wirkliche Nachricht die weite Strecke des Raumes
und der Zeit durchmessen hätte. In unsern Tagen, wo der Mensch die Natur
mehr und mehr seinem Dienst unterwirft, bedarf man dieser Wunder nicht mehr.
Der magnetische Nerv, durch den man alle Länder Europas verknüpft hat,
verkündet mit der Schnelligkeit des Blitzes zu gleicher Zeit jedes große Er¬
eignis) in den verschiedensten Weltgegenden, und wenn man sonst über die Meta-
physiker spottete, die Raum und Zeit zu bloßen Denkbestimmungen herabsetzten,
so sind jetzt auch dem Ungläubigsten die Augen geöffnet. Einige Minuten nach
dem Tode des Kaisers von Rußland durchbebte die erschütternde Kunde dieses
Ereignisses den ganzen Erdtheil; sie drang flüchtig über Berge und Ebenen
und scheute selbst das Meer nicht, welches Frankreich von England trennt, um
Hoffnung und Furcht, Bestürzung und düstere Freude gleichzeitig an allen
Enden der Welt zu erregen.

Und kaum hat die Macht dieser Bewegung in den letzten Jahren einen
ernsteren Gegenstand gefunden, als den Tod eines Mannes, mit dessen Leben
die Geschicke des Welttheils aufs engste verflochten waren. In den Beginn
der furchtbarsten Katastrophe gestellt, die seil dem Sturz Napoleons jemals die
Welt bedroht, mußte alle Welt fühlen, daß hier ein folgenreiches, entscheiden¬
des Creigniß eingetreten sei. In welcher Art es zunächst zu wirken bestimmt
ist, darüber regen sich Zweifel und Bedenken der mannigfaltigsten Art; aber
über zweierlei ist wol das Gefühl aller Menschen, welcher Partei sie auch an¬
gehören mögen, einig: daß das Schicksal einen Mann hinwi'ggerafft hat, dem
auch der Feind eine mit Scheu verbundene Anerkennung nicht versagen
konnte, und daß dieser Tod den Angelegenheiten Europas eine günstige Wen¬
dung geben wird.

Kaiser Nikolaus war im Innern seines Reiches wie nach außen hin von


Grenzboten. I. 18ein. >'i l
Der Tod des Kaisers von Rußland.

In früheren Zeiten, wo man noch glaubte, daß auch in den Mächten der
Natur der Einfluß einer geistigen Bewegung nachzittere, ging die Sage, daß
bei jedem großen Ereigniß in der Menschenwelt sich auf eine wunderbare Weise
die Anzeichen fortpflanzten, und daß man es in den entferntesten Gegenden
empfände, lange bevor die wirkliche Nachricht die weite Strecke des Raumes
und der Zeit durchmessen hätte. In unsern Tagen, wo der Mensch die Natur
mehr und mehr seinem Dienst unterwirft, bedarf man dieser Wunder nicht mehr.
Der magnetische Nerv, durch den man alle Länder Europas verknüpft hat,
verkündet mit der Schnelligkeit des Blitzes zu gleicher Zeit jedes große Er¬
eignis) in den verschiedensten Weltgegenden, und wenn man sonst über die Meta-
physiker spottete, die Raum und Zeit zu bloßen Denkbestimmungen herabsetzten,
so sind jetzt auch dem Ungläubigsten die Augen geöffnet. Einige Minuten nach
dem Tode des Kaisers von Rußland durchbebte die erschütternde Kunde dieses
Ereignisses den ganzen Erdtheil; sie drang flüchtig über Berge und Ebenen
und scheute selbst das Meer nicht, welches Frankreich von England trennt, um
Hoffnung und Furcht, Bestürzung und düstere Freude gleichzeitig an allen
Enden der Welt zu erregen.

Und kaum hat die Macht dieser Bewegung in den letzten Jahren einen
ernsteren Gegenstand gefunden, als den Tod eines Mannes, mit dessen Leben
die Geschicke des Welttheils aufs engste verflochten waren. In den Beginn
der furchtbarsten Katastrophe gestellt, die seil dem Sturz Napoleons jemals die
Welt bedroht, mußte alle Welt fühlen, daß hier ein folgenreiches, entscheiden¬
des Creigniß eingetreten sei. In welcher Art es zunächst zu wirken bestimmt
ist, darüber regen sich Zweifel und Bedenken der mannigfaltigsten Art; aber
über zweierlei ist wol das Gefühl aller Menschen, welcher Partei sie auch an¬
gehören mögen, einig: daß das Schicksal einen Mann hinwi'ggerafft hat, dem
auch der Feind eine mit Scheu verbundene Anerkennung nicht versagen
konnte, und daß dieser Tod den Angelegenheiten Europas eine günstige Wen¬
dung geben wird.

Kaiser Nikolaus war im Innern seines Reiches wie nach außen hin von


Grenzboten. I. 18ein. >'i l
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[0409] Der Tod des Kaisers von Rußland. In früheren Zeiten, wo man noch glaubte, daß auch in den Mächten der Natur der Einfluß einer geistigen Bewegung nachzittere, ging die Sage, daß bei jedem großen Ereigniß in der Menschenwelt sich auf eine wunderbare Weise die Anzeichen fortpflanzten, und daß man es in den entferntesten Gegenden empfände, lange bevor die wirkliche Nachricht die weite Strecke des Raumes und der Zeit durchmessen hätte. In unsern Tagen, wo der Mensch die Natur mehr und mehr seinem Dienst unterwirft, bedarf man dieser Wunder nicht mehr. Der magnetische Nerv, durch den man alle Länder Europas verknüpft hat, verkündet mit der Schnelligkeit des Blitzes zu gleicher Zeit jedes große Er¬ eignis) in den verschiedensten Weltgegenden, und wenn man sonst über die Meta- physiker spottete, die Raum und Zeit zu bloßen Denkbestimmungen herabsetzten, so sind jetzt auch dem Ungläubigsten die Augen geöffnet. Einige Minuten nach dem Tode des Kaisers von Rußland durchbebte die erschütternde Kunde dieses Ereignisses den ganzen Erdtheil; sie drang flüchtig über Berge und Ebenen und scheute selbst das Meer nicht, welches Frankreich von England trennt, um Hoffnung und Furcht, Bestürzung und düstere Freude gleichzeitig an allen Enden der Welt zu erregen. Und kaum hat die Macht dieser Bewegung in den letzten Jahren einen ernsteren Gegenstand gefunden, als den Tod eines Mannes, mit dessen Leben die Geschicke des Welttheils aufs engste verflochten waren. In den Beginn der furchtbarsten Katastrophe gestellt, die seil dem Sturz Napoleons jemals die Welt bedroht, mußte alle Welt fühlen, daß hier ein folgenreiches, entscheiden¬ des Creigniß eingetreten sei. In welcher Art es zunächst zu wirken bestimmt ist, darüber regen sich Zweifel und Bedenken der mannigfaltigsten Art; aber über zweierlei ist wol das Gefühl aller Menschen, welcher Partei sie auch an¬ gehören mögen, einig: daß das Schicksal einen Mann hinwi'ggerafft hat, dem auch der Feind eine mit Scheu verbundene Anerkennung nicht versagen konnte, und daß dieser Tod den Angelegenheiten Europas eine günstige Wen¬ dung geben wird. Kaiser Nikolaus war im Innern seines Reiches wie nach außen hin von Grenzboten. I. 18ein. >'i l

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/409>, abgerufen am 06.05.2024.