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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Was die Schlußsätze des besprochenen Gutachtens anlangt, so finden wir,
den aufgestellten Bemerkungen größtentheils beistimmend, viele für den Lehrer-
stand recht beherzigenswerthe Winke in ihnen, weshalb wir aus 'dem übrigens
ziemlich prägnant gefaßten Schriftstücke noch mittheilen, daß es für unzulässig
befunden worden, in deutschen Aufsätzen den Schülern zuzumuthen über Dinge
zu schreiben > welche noch ganz außer dem Kreise ihrer Erkenntniß und ihrer
innern und äußern Lebenserfahrung liegen, weil die phrasenmäßige Behand¬
lung solcher Gegenstände Veranlassung zu innerer Unwahrheit gibt und die
Fertigkeit, in angemessener, klarer und bestimmter Darstellung sich auszudrücken,
zu fördern nicht im Stande ist. Es wird dafür gehalten, daß sowol in den
Vorträgen über Literaturgeschichte, wie durch die Lectüre in der Classe selbst
ein zu ausgedehnter Gebrauch von der neueren deutschen Literatur gemacht
werde, eine Besorgniß, die wir nicht zu theilen vermögen. Beistimmen muß
man dem Verlangen, daß in der philosophischen Propädeutik die Abiturienten
vielmehr über die Gesetze der Logik, als über die Psychologie, welche wol mehr
Gegenstand des Universitätsstudiums sein möchte, geprüft werden sollten.

Wenn man gerecht sein will, so muß man in dem Inhalte der über die
schlesischen Gymnasien in neuester Zeit abgegebenen Beurtheilung erkennen,
daß ungeachtet des gegenwärtig in Preußen so häufig angetroffenen Strebens,
durch Darlegung eines specifisch-kirchlichen Sinnes sich wohlgefällig und be-
fövderungsfähig zu machen, auch in höheren Beamtenregivnen der Geist der
Wissenschaftlichkeit noch lebendig ist, und auch in jenen Kreisen noch Kraft be¬
wahren wird, wieder glänzend auszustrahlen, sobald bessere Zeiten Raum und
Gelegenheit geben werden, uneingeschränkt und unbehelligt der freien Forschung
Fr. W. im Reiche der Wissenschaft zu huldigen.




Neue GliellMmttur.
Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Literatur. Von I. W. App all. Leipzig,
W. Engelmann. --

Ein sehr instructives und nützliches Buch, zunächst zwar für die Literatur-
geschichte berechnet, aber auch für jeden Freund des Dichters von unzweifel¬
haftem Interesse. Der Verfasser hat eine Masse alter Bücher durchstöbert, die uns
gegenwärtig nicht mehr leicht zur Hand sind, um den Eindruck Werthers auf
seine Zeit zu versinnlichen. Alles, was an Urtheilen, Nachahmungen, Ueber¬
setzungen, gelehrten und ungelehrten Untersuchungen in jener Zeit geschrieben
ist, hat ihm Ausbeute geben müssen, und die Flut dieser Literatur zeigt uns,
wie scharf Goethe den Kern der Zeitstimmung getroffen > hatte; sie zeigt uns


Was die Schlußsätze des besprochenen Gutachtens anlangt, so finden wir,
den aufgestellten Bemerkungen größtentheils beistimmend, viele für den Lehrer-
stand recht beherzigenswerthe Winke in ihnen, weshalb wir aus 'dem übrigens
ziemlich prägnant gefaßten Schriftstücke noch mittheilen, daß es für unzulässig
befunden worden, in deutschen Aufsätzen den Schülern zuzumuthen über Dinge
zu schreiben > welche noch ganz außer dem Kreise ihrer Erkenntniß und ihrer
innern und äußern Lebenserfahrung liegen, weil die phrasenmäßige Behand¬
lung solcher Gegenstände Veranlassung zu innerer Unwahrheit gibt und die
Fertigkeit, in angemessener, klarer und bestimmter Darstellung sich auszudrücken,
zu fördern nicht im Stande ist. Es wird dafür gehalten, daß sowol in den
Vorträgen über Literaturgeschichte, wie durch die Lectüre in der Classe selbst
ein zu ausgedehnter Gebrauch von der neueren deutschen Literatur gemacht
werde, eine Besorgniß, die wir nicht zu theilen vermögen. Beistimmen muß
man dem Verlangen, daß in der philosophischen Propädeutik die Abiturienten
vielmehr über die Gesetze der Logik, als über die Psychologie, welche wol mehr
Gegenstand des Universitätsstudiums sein möchte, geprüft werden sollten.

Wenn man gerecht sein will, so muß man in dem Inhalte der über die
schlesischen Gymnasien in neuester Zeit abgegebenen Beurtheilung erkennen,
daß ungeachtet des gegenwärtig in Preußen so häufig angetroffenen Strebens,
durch Darlegung eines specifisch-kirchlichen Sinnes sich wohlgefällig und be-
fövderungsfähig zu machen, auch in höheren Beamtenregivnen der Geist der
Wissenschaftlichkeit noch lebendig ist, und auch in jenen Kreisen noch Kraft be¬
wahren wird, wieder glänzend auszustrahlen, sobald bessere Zeiten Raum und
Gelegenheit geben werden, uneingeschränkt und unbehelligt der freien Forschung
Fr. W. im Reiche der Wissenschaft zu huldigen.




Neue GliellMmttur.
Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Literatur. Von I. W. App all. Leipzig,
W. Engelmann. —

Ein sehr instructives und nützliches Buch, zunächst zwar für die Literatur-
geschichte berechnet, aber auch für jeden Freund des Dichters von unzweifel¬
haftem Interesse. Der Verfasser hat eine Masse alter Bücher durchstöbert, die uns
gegenwärtig nicht mehr leicht zur Hand sind, um den Eindruck Werthers auf
seine Zeit zu versinnlichen. Alles, was an Urtheilen, Nachahmungen, Ueber¬
setzungen, gelehrten und ungelehrten Untersuchungen in jener Zeit geschrieben
ist, hat ihm Ausbeute geben müssen, und die Flut dieser Literatur zeigt uns,
wie scharf Goethe den Kern der Zeitstimmung getroffen > hatte; sie zeigt uns


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[0306] Was die Schlußsätze des besprochenen Gutachtens anlangt, so finden wir, den aufgestellten Bemerkungen größtentheils beistimmend, viele für den Lehrer- stand recht beherzigenswerthe Winke in ihnen, weshalb wir aus 'dem übrigens ziemlich prägnant gefaßten Schriftstücke noch mittheilen, daß es für unzulässig befunden worden, in deutschen Aufsätzen den Schülern zuzumuthen über Dinge zu schreiben > welche noch ganz außer dem Kreise ihrer Erkenntniß und ihrer innern und äußern Lebenserfahrung liegen, weil die phrasenmäßige Behand¬ lung solcher Gegenstände Veranlassung zu innerer Unwahrheit gibt und die Fertigkeit, in angemessener, klarer und bestimmter Darstellung sich auszudrücken, zu fördern nicht im Stande ist. Es wird dafür gehalten, daß sowol in den Vorträgen über Literaturgeschichte, wie durch die Lectüre in der Classe selbst ein zu ausgedehnter Gebrauch von der neueren deutschen Literatur gemacht werde, eine Besorgniß, die wir nicht zu theilen vermögen. Beistimmen muß man dem Verlangen, daß in der philosophischen Propädeutik die Abiturienten vielmehr über die Gesetze der Logik, als über die Psychologie, welche wol mehr Gegenstand des Universitätsstudiums sein möchte, geprüft werden sollten. Wenn man gerecht sein will, so muß man in dem Inhalte der über die schlesischen Gymnasien in neuester Zeit abgegebenen Beurtheilung erkennen, daß ungeachtet des gegenwärtig in Preußen so häufig angetroffenen Strebens, durch Darlegung eines specifisch-kirchlichen Sinnes sich wohlgefällig und be- fövderungsfähig zu machen, auch in höheren Beamtenregivnen der Geist der Wissenschaftlichkeit noch lebendig ist, und auch in jenen Kreisen noch Kraft be¬ wahren wird, wieder glänzend auszustrahlen, sobald bessere Zeiten Raum und Gelegenheit geben werden, uneingeschränkt und unbehelligt der freien Forschung Fr. W. im Reiche der Wissenschaft zu huldigen. Neue GliellMmttur. Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Literatur. Von I. W. App all. Leipzig, W. Engelmann. — Ein sehr instructives und nützliches Buch, zunächst zwar für die Literatur- geschichte berechnet, aber auch für jeden Freund des Dichters von unzweifel¬ haftem Interesse. Der Verfasser hat eine Masse alter Bücher durchstöbert, die uns gegenwärtig nicht mehr leicht zur Hand sind, um den Eindruck Werthers auf seine Zeit zu versinnlichen. Alles, was an Urtheilen, Nachahmungen, Ueber¬ setzungen, gelehrten und ungelehrten Untersuchungen in jener Zeit geschrieben ist, hat ihm Ausbeute geben müssen, und die Flut dieser Literatur zeigt uns, wie scharf Goethe den Kern der Zeitstimmung getroffen > hatte; sie zeigt uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/306>, abgerufen am 06.05.2024.