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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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sich aufzudringen oder innerhalb des Kreises der Mitbürgerschaft von Hoch¬
oder niedriggestellten zu unlauteren Zwecken in Anspruch genommen werden.
Das Studium der Geschichte soll uns die Verwerflichkeit des unbedingten
Autoritätenglaubens ins Licht stellen, es soll uns zur freien Forschung an¬
regen und bei der Vergleichung der Charaktere von Bedeutung dahin führen,
die Interessen .des Ehrgeizes, der Herrschbegierde und der Bereicherungssucht
gering zu achten, das Streben aber für Volkswohl, für Freiheit und Gerechtig¬
keit, für Anerkennung der Menschenwürde auch im Geringsten der Mitbürger
als ruhmwürdig anzusehen. -- Mit besonderer Vorliebe verbreitet sich, wie zu
erwarten stand, das ministerielle Promemoria über die Behandlung des Religions¬
unterrichts. Während es unsrer Ansicht nach den schlesischen Gymnasien zur
hohen Ehre gereicht, sich vor den Einflüssen des Mysticismus und des
Pietismus in wünschenswerther Weise bewahrt zu haben, wird in der an¬
geführten Denkschrift als auf eine Nothwendigkeit hingewiesen, für den Re¬
ligionsunterricht Veranstaltungen zu treffen, daß das in einer früheren Classe
den Schülern "Angeeignete", die Kenntniß der Bibel, die Kenntniß "der
Geschichte des Reiches Gottes in derselben"(?),, des Katechismus, der
wichtigsten Sprüche und Kirchenlieder auch für die späteren Stufen ein un¬
verlierbares Besitzthum bleibe; falsche Wissenschaftlichkeit -- sagt die Denk¬
schrift weiter -- bloße Verstandesübungen (!), einseitige philologische oder histo¬
rische Behandlung deö Stoffes können die Aufgabe dieses Unterrichts nicht
erschöpfen, welcher vorzugsweise ein lebendiges Verständniß der heiligen Schrift
zum Zwecke haben Msse. Wenn man sich auch mit'Einzelnem dieser Aus¬
sprüche, deren Sinn keinesweges klar und deutungSlos hingestellt ist, einver¬
standen erklären kann, so leuchtet doch aus den im Nachstehenden wiedergege-
benen- ministeriellen Andeutungen eine zu specifisch kirchliche Tendenz hervor,
als'daß man nicht wünschen sollte, die Dirigenten unsrer Gymnasien möchten
auf der Hut sein, in den ihnen anvertrauten Schülerkreisen dem blinden
Glauben an in gegenwärtigen Zeiten von einflußreicher Seite her so dringend
befürwortete theologische Dogmen allzubeflissen Eingang zu verschaffen. Immer¬
hin vorsichtig genug, aber doch hinlänglich erkennbar,, spricht das ministerielle
Gutachten dahin sich aus, daß bei den "Morgenandachten", welche nur an
wenigen Gymnasien, auch wo keine locale Hindernisse stattfinden, gemeinsam
seien, von der Bibel zu selten Gebrauch gemacht werde, daß an Stelle "un¬
brauchbarer " (d. h. wol zu rationeller) Schulgesangbücher zweckmäßigere ein¬
zuführen seien (empfohlen wird daS "christliche" Schulgesangbuch von Noeldecke),
daß bei den Abiturientenprüfungen häusiger und eingehend nach Kenntniß der
heiligen Schrift (auch bei nicht für die Theologie sich Bestimmenden) ge¬
fragt werden müsse und der Religionsunterricht nicht länger Lehrern anver¬
traut werden dürfe, denen selbst die formelle Qualifikation "dazu" abgebe. --


Grenzboten. II- ISllü. . Z8

sich aufzudringen oder innerhalb des Kreises der Mitbürgerschaft von Hoch¬
oder niedriggestellten zu unlauteren Zwecken in Anspruch genommen werden.
Das Studium der Geschichte soll uns die Verwerflichkeit des unbedingten
Autoritätenglaubens ins Licht stellen, es soll uns zur freien Forschung an¬
regen und bei der Vergleichung der Charaktere von Bedeutung dahin führen,
die Interessen .des Ehrgeizes, der Herrschbegierde und der Bereicherungssucht
gering zu achten, das Streben aber für Volkswohl, für Freiheit und Gerechtig¬
keit, für Anerkennung der Menschenwürde auch im Geringsten der Mitbürger
als ruhmwürdig anzusehen. — Mit besonderer Vorliebe verbreitet sich, wie zu
erwarten stand, das ministerielle Promemoria über die Behandlung des Religions¬
unterrichts. Während es unsrer Ansicht nach den schlesischen Gymnasien zur
hohen Ehre gereicht, sich vor den Einflüssen des Mysticismus und des
Pietismus in wünschenswerther Weise bewahrt zu haben, wird in der an¬
geführten Denkschrift als auf eine Nothwendigkeit hingewiesen, für den Re¬
ligionsunterricht Veranstaltungen zu treffen, daß das in einer früheren Classe
den Schülern „Angeeignete", die Kenntniß der Bibel, die Kenntniß „der
Geschichte des Reiches Gottes in derselben"(?),, des Katechismus, der
wichtigsten Sprüche und Kirchenlieder auch für die späteren Stufen ein un¬
verlierbares Besitzthum bleibe; falsche Wissenschaftlichkeit — sagt die Denk¬
schrift weiter — bloße Verstandesübungen (!), einseitige philologische oder histo¬
rische Behandlung deö Stoffes können die Aufgabe dieses Unterrichts nicht
erschöpfen, welcher vorzugsweise ein lebendiges Verständniß der heiligen Schrift
zum Zwecke haben Msse. Wenn man sich auch mit'Einzelnem dieser Aus¬
sprüche, deren Sinn keinesweges klar und deutungSlos hingestellt ist, einver¬
standen erklären kann, so leuchtet doch aus den im Nachstehenden wiedergege-
benen- ministeriellen Andeutungen eine zu specifisch kirchliche Tendenz hervor,
als'daß man nicht wünschen sollte, die Dirigenten unsrer Gymnasien möchten
auf der Hut sein, in den ihnen anvertrauten Schülerkreisen dem blinden
Glauben an in gegenwärtigen Zeiten von einflußreicher Seite her so dringend
befürwortete theologische Dogmen allzubeflissen Eingang zu verschaffen. Immer¬
hin vorsichtig genug, aber doch hinlänglich erkennbar,, spricht das ministerielle
Gutachten dahin sich aus, daß bei den „Morgenandachten", welche nur an
wenigen Gymnasien, auch wo keine locale Hindernisse stattfinden, gemeinsam
seien, von der Bibel zu selten Gebrauch gemacht werde, daß an Stelle „un¬
brauchbarer " (d. h. wol zu rationeller) Schulgesangbücher zweckmäßigere ein¬
zuführen seien (empfohlen wird daS „christliche" Schulgesangbuch von Noeldecke),
daß bei den Abiturientenprüfungen häusiger und eingehend nach Kenntniß der
heiligen Schrift (auch bei nicht für die Theologie sich Bestimmenden) ge¬
fragt werden müsse und der Religionsunterricht nicht länger Lehrern anver¬
traut werden dürfe, denen selbst die formelle Qualifikation „dazu" abgebe. —


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[0305] sich aufzudringen oder innerhalb des Kreises der Mitbürgerschaft von Hoch¬ oder niedriggestellten zu unlauteren Zwecken in Anspruch genommen werden. Das Studium der Geschichte soll uns die Verwerflichkeit des unbedingten Autoritätenglaubens ins Licht stellen, es soll uns zur freien Forschung an¬ regen und bei der Vergleichung der Charaktere von Bedeutung dahin führen, die Interessen .des Ehrgeizes, der Herrschbegierde und der Bereicherungssucht gering zu achten, das Streben aber für Volkswohl, für Freiheit und Gerechtig¬ keit, für Anerkennung der Menschenwürde auch im Geringsten der Mitbürger als ruhmwürdig anzusehen. — Mit besonderer Vorliebe verbreitet sich, wie zu erwarten stand, das ministerielle Promemoria über die Behandlung des Religions¬ unterrichts. Während es unsrer Ansicht nach den schlesischen Gymnasien zur hohen Ehre gereicht, sich vor den Einflüssen des Mysticismus und des Pietismus in wünschenswerther Weise bewahrt zu haben, wird in der an¬ geführten Denkschrift als auf eine Nothwendigkeit hingewiesen, für den Re¬ ligionsunterricht Veranstaltungen zu treffen, daß das in einer früheren Classe den Schülern „Angeeignete", die Kenntniß der Bibel, die Kenntniß „der Geschichte des Reiches Gottes in derselben"(?),, des Katechismus, der wichtigsten Sprüche und Kirchenlieder auch für die späteren Stufen ein un¬ verlierbares Besitzthum bleibe; falsche Wissenschaftlichkeit — sagt die Denk¬ schrift weiter — bloße Verstandesübungen (!), einseitige philologische oder histo¬ rische Behandlung deö Stoffes können die Aufgabe dieses Unterrichts nicht erschöpfen, welcher vorzugsweise ein lebendiges Verständniß der heiligen Schrift zum Zwecke haben Msse. Wenn man sich auch mit'Einzelnem dieser Aus¬ sprüche, deren Sinn keinesweges klar und deutungSlos hingestellt ist, einver¬ standen erklären kann, so leuchtet doch aus den im Nachstehenden wiedergege- benen- ministeriellen Andeutungen eine zu specifisch kirchliche Tendenz hervor, als'daß man nicht wünschen sollte, die Dirigenten unsrer Gymnasien möchten auf der Hut sein, in den ihnen anvertrauten Schülerkreisen dem blinden Glauben an in gegenwärtigen Zeiten von einflußreicher Seite her so dringend befürwortete theologische Dogmen allzubeflissen Eingang zu verschaffen. Immer¬ hin vorsichtig genug, aber doch hinlänglich erkennbar,, spricht das ministerielle Gutachten dahin sich aus, daß bei den „Morgenandachten", welche nur an wenigen Gymnasien, auch wo keine locale Hindernisse stattfinden, gemeinsam seien, von der Bibel zu selten Gebrauch gemacht werde, daß an Stelle „un¬ brauchbarer " (d. h. wol zu rationeller) Schulgesangbücher zweckmäßigere ein¬ zuführen seien (empfohlen wird daS „christliche" Schulgesangbuch von Noeldecke), daß bei den Abiturientenprüfungen häusiger und eingehend nach Kenntniß der heiligen Schrift (auch bei nicht für die Theologie sich Bestimmenden) ge¬ fragt werden müsse und der Religionsunterricht nicht länger Lehrern anver¬ traut werden dürfe, denen selbst die formelle Qualifikation „dazu" abgebe. — Grenzboten. II- ISllü. . Z8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/305>, abgerufen am 26.05.2024.