Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Pfarrer von Grafenried. Eine deutsche Lebensgeschichte von Alfred
Meißner. Zwei Bände. Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1835. --

Wir begegnen hier dem talentvollen Dichter auf einem neuen Gebiet und
würden ihn gern mit einigen freundlichen Worten bewillkommnen, allein eS
scheint uns förderlicher für seine Entwicklung, grade herauszusagen, daß seine Ar¬
beit trotz vortrefflicher Einzelnheiten eine verfehlte ist. In seinen beiden Dramen
mußten wir zwar den Stoff tadeln, aber wir erkannten ein ganz ungewöhn¬
liches theatralisches Geschick heraus. Dieses Geschick vermissen wir leider bei
der vorliegenden Erzählung. Sie zerbröckelt sich in eine Reihe von Episoden,
die mehr äußerlich als innerlich zusammenhängen und selbst in der Tendenz
würden wir vergebens nach einem leitenden Faden suchen. Zuletzt freilich
drängt sich ein bestimmtes Problem in den Vordergrund, wie sich nämlich ein
wohlgesinnter, aber nicht starker Mann in den Conflict zwischen den Nei¬
gungen seines Herzens und den Ueberzeugungen seines Gewissens zu verhalten
habe. Aber grade, weil dieses Problem in der letzten Hälfte so scharf markirt
wird, fällt es uns auf, daß im Anfang gar nicht davon die Rede ist. Zudem
hat es der Dichter sehr unglücklich gelöst. Reinhold, der Held des Romans,
hat von einem kleinen deutschen Fürsten mehrmals Wohlthaten empfangen;
zuletzt stellt sich sogar heraus, daß er sein natürlicher Sohn ist. Nun wird
er durch die Bewegung von 1868 an die Spitze der liberalen Partei gestellt,
er wird constitutioneller Minister und erhält den Auftrag, einen Verfassungs¬
entwurf auszuarbeiten. Sein Gewissen gebietet ihm, die Rechte des Fürsten
darin so stark als möglich zu beschneiden, sein Herz verpflichtet ihn zur Scho¬
nung gegen seinen Vater. In diesem Conflict weiß er sich nicht zu helfen, in
der Aufregung rührt ihn der Schlag. -- So wunderlich wie dieser ganz uner¬
wartete Ausgang sind auch die übrigen Verhältnisse zwischen den einzelnen
Personen; sie entsprechen weder dem wirklichen Leben, noch haben sie ein
ideales Interesse. Alfred Meißner hat es in diesem Roman unternommen, eine
Gesellschaft zu schildern, die er nicht kennt; und weil dies der Grundfehler ist,
auf den sich alle übrigen zurückführen lassen, halten wir es für unnöthig, auf
die Analyse des Einzelnen einzugehen, da die Schwächen ohnehin handgreiflich
genug hervortreten. Wir wollen statt dessen eine allgemeine Betrachtung, die sich
auf den Roman unsrer ganzen Zeit bezieht, speciell an diesen Dichter
richten, der Talent und Strebsamkeit besitzt und daher noch eine Zukunft
haben kann.

Die alte naive Erzählung der Italiener, die man sonst Roman oder
Novelle nannte, ist gegenwärtig aus dem Gebiet der Kunst verschwunden.
Man mag das billigen oder mißbilligen, genug, es ist eine vollendete That¬
sache. Der moderne Roman ist durchweg Sittenroman und zwar in Deutsch-


Der Pfarrer von Grafenried. Eine deutsche Lebensgeschichte von Alfred
Meißner. Zwei Bände. Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1835. —

Wir begegnen hier dem talentvollen Dichter auf einem neuen Gebiet und
würden ihn gern mit einigen freundlichen Worten bewillkommnen, allein eS
scheint uns förderlicher für seine Entwicklung, grade herauszusagen, daß seine Ar¬
beit trotz vortrefflicher Einzelnheiten eine verfehlte ist. In seinen beiden Dramen
mußten wir zwar den Stoff tadeln, aber wir erkannten ein ganz ungewöhn¬
liches theatralisches Geschick heraus. Dieses Geschick vermissen wir leider bei
der vorliegenden Erzählung. Sie zerbröckelt sich in eine Reihe von Episoden,
die mehr äußerlich als innerlich zusammenhängen und selbst in der Tendenz
würden wir vergebens nach einem leitenden Faden suchen. Zuletzt freilich
drängt sich ein bestimmtes Problem in den Vordergrund, wie sich nämlich ein
wohlgesinnter, aber nicht starker Mann in den Conflict zwischen den Nei¬
gungen seines Herzens und den Ueberzeugungen seines Gewissens zu verhalten
habe. Aber grade, weil dieses Problem in der letzten Hälfte so scharf markirt
wird, fällt es uns auf, daß im Anfang gar nicht davon die Rede ist. Zudem
hat es der Dichter sehr unglücklich gelöst. Reinhold, der Held des Romans,
hat von einem kleinen deutschen Fürsten mehrmals Wohlthaten empfangen;
zuletzt stellt sich sogar heraus, daß er sein natürlicher Sohn ist. Nun wird
er durch die Bewegung von 1868 an die Spitze der liberalen Partei gestellt,
er wird constitutioneller Minister und erhält den Auftrag, einen Verfassungs¬
entwurf auszuarbeiten. Sein Gewissen gebietet ihm, die Rechte des Fürsten
darin so stark als möglich zu beschneiden, sein Herz verpflichtet ihn zur Scho¬
nung gegen seinen Vater. In diesem Conflict weiß er sich nicht zu helfen, in
der Aufregung rührt ihn der Schlag. — So wunderlich wie dieser ganz uner¬
wartete Ausgang sind auch die übrigen Verhältnisse zwischen den einzelnen
Personen; sie entsprechen weder dem wirklichen Leben, noch haben sie ein
ideales Interesse. Alfred Meißner hat es in diesem Roman unternommen, eine
Gesellschaft zu schildern, die er nicht kennt; und weil dies der Grundfehler ist,
auf den sich alle übrigen zurückführen lassen, halten wir es für unnöthig, auf
die Analyse des Einzelnen einzugehen, da die Schwächen ohnehin handgreiflich
genug hervortreten. Wir wollen statt dessen eine allgemeine Betrachtung, die sich
auf den Roman unsrer ganzen Zeit bezieht, speciell an diesen Dichter
richten, der Talent und Strebsamkeit besitzt und daher noch eine Zukunft
haben kann.

Die alte naive Erzählung der Italiener, die man sonst Roman oder
Novelle nannte, ist gegenwärtig aus dem Gebiet der Kunst verschwunden.
Man mag das billigen oder mißbilligen, genug, es ist eine vollendete That¬
sache. Der moderne Roman ist durchweg Sittenroman und zwar in Deutsch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0178" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100098"/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Der Pfarrer von Grafenried.  Eine deutsche Lebensgeschichte von Alfred<lb/>
Meißner.  Zwei Bände.  Hamburg, Hoffmann u. Campe.  1835. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_533"> Wir begegnen hier dem talentvollen Dichter auf einem neuen Gebiet und<lb/>
würden ihn gern mit einigen freundlichen Worten bewillkommnen, allein eS<lb/>
scheint uns förderlicher für seine Entwicklung, grade herauszusagen, daß seine Ar¬<lb/>
beit trotz vortrefflicher Einzelnheiten eine verfehlte ist. In seinen beiden Dramen<lb/>
mußten wir zwar den Stoff tadeln, aber wir erkannten ein ganz ungewöhn¬<lb/>
liches theatralisches Geschick heraus. Dieses Geschick vermissen wir leider bei<lb/>
der vorliegenden Erzählung. Sie zerbröckelt sich in eine Reihe von Episoden,<lb/>
die mehr äußerlich als innerlich zusammenhängen und selbst in der Tendenz<lb/>
würden wir vergebens nach einem leitenden Faden suchen. Zuletzt freilich<lb/>
drängt sich ein bestimmtes Problem in den Vordergrund, wie sich nämlich ein<lb/>
wohlgesinnter, aber nicht starker Mann in den Conflict zwischen den Nei¬<lb/>
gungen seines Herzens und den Ueberzeugungen seines Gewissens zu verhalten<lb/>
habe. Aber grade, weil dieses Problem in der letzten Hälfte so scharf markirt<lb/>
wird, fällt es uns auf, daß im Anfang gar nicht davon die Rede ist. Zudem<lb/>
hat es der Dichter sehr unglücklich gelöst. Reinhold, der Held des Romans,<lb/>
hat von einem kleinen deutschen Fürsten mehrmals Wohlthaten empfangen;<lb/>
zuletzt stellt sich sogar heraus, daß er sein natürlicher Sohn ist. Nun wird<lb/>
er durch die Bewegung von 1868 an die Spitze der liberalen Partei gestellt,<lb/>
er wird constitutioneller Minister und erhält den Auftrag, einen Verfassungs¬<lb/>
entwurf auszuarbeiten. Sein Gewissen gebietet ihm, die Rechte des Fürsten<lb/>
darin so stark als möglich zu beschneiden, sein Herz verpflichtet ihn zur Scho¬<lb/>
nung gegen seinen Vater. In diesem Conflict weiß er sich nicht zu helfen, in<lb/>
der Aufregung rührt ihn der Schlag. &#x2014; So wunderlich wie dieser ganz uner¬<lb/>
wartete Ausgang sind auch die übrigen Verhältnisse zwischen den einzelnen<lb/>
Personen; sie entsprechen weder dem wirklichen Leben, noch haben sie ein<lb/>
ideales Interesse. Alfred Meißner hat es in diesem Roman unternommen, eine<lb/>
Gesellschaft zu schildern, die er nicht kennt; und weil dies der Grundfehler ist,<lb/>
auf den sich alle übrigen zurückführen lassen, halten wir es für unnöthig, auf<lb/>
die Analyse des Einzelnen einzugehen, da die Schwächen ohnehin handgreiflich<lb/>
genug hervortreten. Wir wollen statt dessen eine allgemeine Betrachtung, die sich<lb/>
auf den Roman unsrer ganzen Zeit bezieht, speciell an diesen Dichter<lb/>
richten, der Talent und Strebsamkeit besitzt und daher noch eine Zukunft<lb/>
haben kann.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_534" next="#ID_535"> Die alte naive Erzählung der Italiener, die man sonst Roman oder<lb/>
Novelle nannte, ist gegenwärtig aus dem Gebiet der Kunst verschwunden.<lb/>
Man mag das billigen oder mißbilligen, genug, es ist eine vollendete That¬<lb/>
sache.  Der moderne Roman ist durchweg Sittenroman und zwar in Deutsch-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0178] Der Pfarrer von Grafenried. Eine deutsche Lebensgeschichte von Alfred Meißner. Zwei Bände. Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1835. — Wir begegnen hier dem talentvollen Dichter auf einem neuen Gebiet und würden ihn gern mit einigen freundlichen Worten bewillkommnen, allein eS scheint uns förderlicher für seine Entwicklung, grade herauszusagen, daß seine Ar¬ beit trotz vortrefflicher Einzelnheiten eine verfehlte ist. In seinen beiden Dramen mußten wir zwar den Stoff tadeln, aber wir erkannten ein ganz ungewöhn¬ liches theatralisches Geschick heraus. Dieses Geschick vermissen wir leider bei der vorliegenden Erzählung. Sie zerbröckelt sich in eine Reihe von Episoden, die mehr äußerlich als innerlich zusammenhängen und selbst in der Tendenz würden wir vergebens nach einem leitenden Faden suchen. Zuletzt freilich drängt sich ein bestimmtes Problem in den Vordergrund, wie sich nämlich ein wohlgesinnter, aber nicht starker Mann in den Conflict zwischen den Nei¬ gungen seines Herzens und den Ueberzeugungen seines Gewissens zu verhalten habe. Aber grade, weil dieses Problem in der letzten Hälfte so scharf markirt wird, fällt es uns auf, daß im Anfang gar nicht davon die Rede ist. Zudem hat es der Dichter sehr unglücklich gelöst. Reinhold, der Held des Romans, hat von einem kleinen deutschen Fürsten mehrmals Wohlthaten empfangen; zuletzt stellt sich sogar heraus, daß er sein natürlicher Sohn ist. Nun wird er durch die Bewegung von 1868 an die Spitze der liberalen Partei gestellt, er wird constitutioneller Minister und erhält den Auftrag, einen Verfassungs¬ entwurf auszuarbeiten. Sein Gewissen gebietet ihm, die Rechte des Fürsten darin so stark als möglich zu beschneiden, sein Herz verpflichtet ihn zur Scho¬ nung gegen seinen Vater. In diesem Conflict weiß er sich nicht zu helfen, in der Aufregung rührt ihn der Schlag. — So wunderlich wie dieser ganz uner¬ wartete Ausgang sind auch die übrigen Verhältnisse zwischen den einzelnen Personen; sie entsprechen weder dem wirklichen Leben, noch haben sie ein ideales Interesse. Alfred Meißner hat es in diesem Roman unternommen, eine Gesellschaft zu schildern, die er nicht kennt; und weil dies der Grundfehler ist, auf den sich alle übrigen zurückführen lassen, halten wir es für unnöthig, auf die Analyse des Einzelnen einzugehen, da die Schwächen ohnehin handgreiflich genug hervortreten. Wir wollen statt dessen eine allgemeine Betrachtung, die sich auf den Roman unsrer ganzen Zeit bezieht, speciell an diesen Dichter richten, der Talent und Strebsamkeit besitzt und daher noch eine Zukunft haben kann. Die alte naive Erzählung der Italiener, die man sonst Roman oder Novelle nannte, ist gegenwärtig aus dem Gebiet der Kunst verschwunden. Man mag das billigen oder mißbilligen, genug, es ist eine vollendete That¬ sache. Der moderne Roman ist durchweg Sittenroman und zwar in Deutsch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/178
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/178>, abgerufen am 01.05.2024.