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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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land noch ausschließlicher, als in den übrigen Ländern. Nun machen wir die
Erfahrung, daß mit sehr wenigen Ausnahmen alle deutsche Romane uns das
deutsche Leben als höchst jämmerlich und niederträchtig darstellen. Im wirk¬
lichen Leben begegnen wir doch fortwährend tüchtigen und kräftigen Persön¬
lichkeiten, die fest auf ihren Füßen, stehen, mit Behagen das Leben genießen
und selbst widerwärtige Schicksale mit Anstand zu tragen wissen. Im deutschen
Roman dagegen erscheinen uns nur Schwächlinge, Figuren ohne Zweck und
Inhalt, die von jedem Hauch der Zeit hin- und hergeworfen werden, dünkel¬
hafte, anmaßende Geschöpfe, die sich, wenn einmal die Noth über sie einbricht,
als hysterische Weiber geberden, kurz. Menschen, an denen kein gesundes Ge¬
fühl seine Freude haben kann. Worin der Grund dieses Unterschiedes liegt,
haben wir schon hundertmal gesagt, indessen ist es einer Classe gegenüber, die
in der sogenannten Literatur das große Wort führt, nothwendig, immer von
neuem wieder darauf zurückzukommen.

Der Deutsche ist sehr tüchtig, respectabel, behaglich und lebensfroh da,
wo er sich zu Hause sühlt, bei seiner Arbeit, die er ganz versteht, die er be¬
herrscht, in der er einen gesegneten, ununterbrochenen Fortschritt erlebt.

Der Deutsche ist dagegen sehr unausstehlich, sentimental, hypochondrisch
u. s. w. da, wo er versucht den Dilettanten zu spielen. Eine Gesellschaft
von Dilettanten ist in Deutschland das abschreckendste Bild, das man sich
vorstellen kann. In Frankreich ist es anders, weil dort der Dilettantis¬
mus in allen seinen Nüancen als Arbeit betrieben wird, wie in England
der Sport.

Gewisse Zeiten im Leben muß jeder haben, wo er Dilettant ist; der
wackerste Geschäftsmann muß einmal kannegießern, über Concert und Theater
sprechen u. s. w., das gehört nothwendig zum Leben und dient dazu, die Ein¬
seitigkeit des Geschäfts aufzuheben. Aber unsre Belletristen verfallen dem un¬
begreiflichen Irrthum, diesen Dilettantismus in ihren Schilderungen zum
Mittelpunkt des Lebens zu machen; sie bewegen sich fast ausschließlich aus
dem Gebiet der Conversation und lassen ihre Herren und Damen mit einer
Ausdauer, die einer bessern Sache werth wäre, ihre unmaßgeblichen Ansichten
und Meinungen über Völkerglück und Familienwohl, über Schiller und Goethe,
über Sinnenglück und Seelenfriede, über Homöopathie und Allopathie :c. her¬
leiern, mit etwas Politik und Liebelei zersetzt; und wenn man blos aus diesen
Schilderungen das deutsche Leben kennen lernen wollte, so sollte man anneh¬
men, daß in Deutschland die Männer und Frauen nichts Anderes zu thun
hätten, als sich über diese interessanten Gegenstände zu unterhalten. Nun
sind nur aber in der Unterhaltung sehr schwerfällig und ungeschickt, wo wir
nicht einen bestimmten Gegenstand der Unterhaltung haben, einen Gegenstand,
den wir vollkommen durchschauen. Daß die Mehrzahl unsrer Belletristen trotz-


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land noch ausschließlicher, als in den übrigen Ländern. Nun machen wir die
Erfahrung, daß mit sehr wenigen Ausnahmen alle deutsche Romane uns das
deutsche Leben als höchst jämmerlich und niederträchtig darstellen. Im wirk¬
lichen Leben begegnen wir doch fortwährend tüchtigen und kräftigen Persön¬
lichkeiten, die fest auf ihren Füßen, stehen, mit Behagen das Leben genießen
und selbst widerwärtige Schicksale mit Anstand zu tragen wissen. Im deutschen
Roman dagegen erscheinen uns nur Schwächlinge, Figuren ohne Zweck und
Inhalt, die von jedem Hauch der Zeit hin- und hergeworfen werden, dünkel¬
hafte, anmaßende Geschöpfe, die sich, wenn einmal die Noth über sie einbricht,
als hysterische Weiber geberden, kurz. Menschen, an denen kein gesundes Ge¬
fühl seine Freude haben kann. Worin der Grund dieses Unterschiedes liegt,
haben wir schon hundertmal gesagt, indessen ist es einer Classe gegenüber, die
in der sogenannten Literatur das große Wort führt, nothwendig, immer von
neuem wieder darauf zurückzukommen.

Der Deutsche ist sehr tüchtig, respectabel, behaglich und lebensfroh da,
wo er sich zu Hause sühlt, bei seiner Arbeit, die er ganz versteht, die er be¬
herrscht, in der er einen gesegneten, ununterbrochenen Fortschritt erlebt.

Der Deutsche ist dagegen sehr unausstehlich, sentimental, hypochondrisch
u. s. w. da, wo er versucht den Dilettanten zu spielen. Eine Gesellschaft
von Dilettanten ist in Deutschland das abschreckendste Bild, das man sich
vorstellen kann. In Frankreich ist es anders, weil dort der Dilettantis¬
mus in allen seinen Nüancen als Arbeit betrieben wird, wie in England
der Sport.

Gewisse Zeiten im Leben muß jeder haben, wo er Dilettant ist; der
wackerste Geschäftsmann muß einmal kannegießern, über Concert und Theater
sprechen u. s. w., das gehört nothwendig zum Leben und dient dazu, die Ein¬
seitigkeit des Geschäfts aufzuheben. Aber unsre Belletristen verfallen dem un¬
begreiflichen Irrthum, diesen Dilettantismus in ihren Schilderungen zum
Mittelpunkt des Lebens zu machen; sie bewegen sich fast ausschließlich aus
dem Gebiet der Conversation und lassen ihre Herren und Damen mit einer
Ausdauer, die einer bessern Sache werth wäre, ihre unmaßgeblichen Ansichten
und Meinungen über Völkerglück und Familienwohl, über Schiller und Goethe,
über Sinnenglück und Seelenfriede, über Homöopathie und Allopathie :c. her¬
leiern, mit etwas Politik und Liebelei zersetzt; und wenn man blos aus diesen
Schilderungen das deutsche Leben kennen lernen wollte, so sollte man anneh¬
men, daß in Deutschland die Männer und Frauen nichts Anderes zu thun
hätten, als sich über diese interessanten Gegenstände zu unterhalten. Nun
sind nur aber in der Unterhaltung sehr schwerfällig und ungeschickt, wo wir
nicht einen bestimmten Gegenstand der Unterhaltung haben, einen Gegenstand,
den wir vollkommen durchschauen. Daß die Mehrzahl unsrer Belletristen trotz-


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[0179] land noch ausschließlicher, als in den übrigen Ländern. Nun machen wir die Erfahrung, daß mit sehr wenigen Ausnahmen alle deutsche Romane uns das deutsche Leben als höchst jämmerlich und niederträchtig darstellen. Im wirk¬ lichen Leben begegnen wir doch fortwährend tüchtigen und kräftigen Persön¬ lichkeiten, die fest auf ihren Füßen, stehen, mit Behagen das Leben genießen und selbst widerwärtige Schicksale mit Anstand zu tragen wissen. Im deutschen Roman dagegen erscheinen uns nur Schwächlinge, Figuren ohne Zweck und Inhalt, die von jedem Hauch der Zeit hin- und hergeworfen werden, dünkel¬ hafte, anmaßende Geschöpfe, die sich, wenn einmal die Noth über sie einbricht, als hysterische Weiber geberden, kurz. Menschen, an denen kein gesundes Ge¬ fühl seine Freude haben kann. Worin der Grund dieses Unterschiedes liegt, haben wir schon hundertmal gesagt, indessen ist es einer Classe gegenüber, die in der sogenannten Literatur das große Wort führt, nothwendig, immer von neuem wieder darauf zurückzukommen. Der Deutsche ist sehr tüchtig, respectabel, behaglich und lebensfroh da, wo er sich zu Hause sühlt, bei seiner Arbeit, die er ganz versteht, die er be¬ herrscht, in der er einen gesegneten, ununterbrochenen Fortschritt erlebt. Der Deutsche ist dagegen sehr unausstehlich, sentimental, hypochondrisch u. s. w. da, wo er versucht den Dilettanten zu spielen. Eine Gesellschaft von Dilettanten ist in Deutschland das abschreckendste Bild, das man sich vorstellen kann. In Frankreich ist es anders, weil dort der Dilettantis¬ mus in allen seinen Nüancen als Arbeit betrieben wird, wie in England der Sport. Gewisse Zeiten im Leben muß jeder haben, wo er Dilettant ist; der wackerste Geschäftsmann muß einmal kannegießern, über Concert und Theater sprechen u. s. w., das gehört nothwendig zum Leben und dient dazu, die Ein¬ seitigkeit des Geschäfts aufzuheben. Aber unsre Belletristen verfallen dem un¬ begreiflichen Irrthum, diesen Dilettantismus in ihren Schilderungen zum Mittelpunkt des Lebens zu machen; sie bewegen sich fast ausschließlich aus dem Gebiet der Conversation und lassen ihre Herren und Damen mit einer Ausdauer, die einer bessern Sache werth wäre, ihre unmaßgeblichen Ansichten und Meinungen über Völkerglück und Familienwohl, über Schiller und Goethe, über Sinnenglück und Seelenfriede, über Homöopathie und Allopathie :c. her¬ leiern, mit etwas Politik und Liebelei zersetzt; und wenn man blos aus diesen Schilderungen das deutsche Leben kennen lernen wollte, so sollte man anneh¬ men, daß in Deutschland die Männer und Frauen nichts Anderes zu thun hätten, als sich über diese interessanten Gegenstände zu unterhalten. Nun sind nur aber in der Unterhaltung sehr schwerfällig und ungeschickt, wo wir nicht einen bestimmten Gegenstand der Unterhaltung haben, einen Gegenstand, den wir vollkommen durchschauen. Daß die Mehrzahl unsrer Belletristen trotz- 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/179>, abgerufen am 22.05.2024.