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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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zu ziehen, wenn sie ihm nachweist, die freie Wissenschaft sei nicht nur negirend
in der Physik und Metaphysik, sondern auch auf dem ethischen Gebiet. Der
Staat wird heutzutage Anstand nehmen, denjenigen zu verfolgen, der die Um¬
drehung der Sonne um die Erde leugnet; wenn man ihn aber darauf auf¬
merksam macht, daß derselbe auch den Unterschied des Guten und Bösen
leugnet, und daß das Eine nothwendig mit dem Andern zusammenhängt, so wird
er in gutem Glauben zu handeln vermeinen, wenn er solchen Einflüsterungen
Gehör gibt. Um dies zu vermeiden, müssen wir stets darauf zurückkommen,
daß die Naturwissenschaft mit dem Glauben d. h. mit dem Glauben an sitt¬
liche Ideen gar nichts zu thun hat, daß sie ihn weder bekräftigen noch leugnen
kann; und diesen Unterschied müssen wir selbst immer auss lebhafteste vor Augen
haben, wenn wir für das Princip der freien Forschung kämpfen.


Zur Vollendung der Erkenntnißlehre, mit besonderer Rücksicht auf Hegel.
Von Vr. Emil Freiherr" von Meysenbug. Berlin, Allgemeine Deutsche
Verlagsanstalt.

7 Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des modernen Materialismus
und stellt sich als seine Hauptaufgabe die Bekämpfung desselben vor. Er sucht
das Absterben der bisherigen Schulen nachzuweisen, namentlich der jüngsten, der
Hegelschen Schule. "Ein Theil, durch die Folgerungen des Junghegelschen
Zweifels abgeschreckt, ist zu älteren Standpunkten zurückgekehrt; derjenige Theil
aber, der sich das Ansetzn gibt, treu bei der Lehre zu beharren, beweist die
wesentliche Abschwächung auch seines Glaubens dadurch, daß demselben keine
Werke nachfolgen." Der Verfasser ist nun zwar der Ansicht, daß durch die
Hegelsche Philosophie der Zweifel nicht so beseitigt ist, wie es in der echten
Philosophie geschehen sollte, aber er hält den Weg, den die deutsche Philosophie
bisher eingeschlagen hat, dennoch im Wesentlichen für den richtigen, und
glaubt, daß nur ein cousequenter Fortgang auf demselben uns über die augen¬
blicklichen Verirrungen wieder hinausführen könne. Einen solchen Fortschritt
will er unternehmen, nur scheint es ihm gerathener, den Versuch früher durch
mündliche Vortrage, als durch eine Schrift zu machen. Das gegenwärtige
Schriftchen soll also zunächst weiter nichts sein, als eine Einladung zu diesen
Vorlesungen. Wir begnügen uns damit, in Beziehung auf dieselben dem Ver¬
fasser zweierlei zu empfehlen: erstens möge er stets sein eignes Wort im Auge
behalten, daß die Wissenschaft, um verständlich zu sein, sich die Mühe geben
müsse, deutsch zu reden; zweitens möge er durch seinen gerechten oder unge¬
rechten Zorn über die modernen Demagogen sich nicht verleiten lassen, Schimpf¬
worte als Argumente zu gebrauchen, wo es sich um eine wissenschaftliche Wider¬
legung handelt. Die nachfolgende Art der Deduction möge er daher in seinen
Vorlesungen vermeiden: "Die Vorstellung des allgemeinen Weltzustandes als


zu ziehen, wenn sie ihm nachweist, die freie Wissenschaft sei nicht nur negirend
in der Physik und Metaphysik, sondern auch auf dem ethischen Gebiet. Der
Staat wird heutzutage Anstand nehmen, denjenigen zu verfolgen, der die Um¬
drehung der Sonne um die Erde leugnet; wenn man ihn aber darauf auf¬
merksam macht, daß derselbe auch den Unterschied des Guten und Bösen
leugnet, und daß das Eine nothwendig mit dem Andern zusammenhängt, so wird
er in gutem Glauben zu handeln vermeinen, wenn er solchen Einflüsterungen
Gehör gibt. Um dies zu vermeiden, müssen wir stets darauf zurückkommen,
daß die Naturwissenschaft mit dem Glauben d. h. mit dem Glauben an sitt¬
liche Ideen gar nichts zu thun hat, daß sie ihn weder bekräftigen noch leugnen
kann; und diesen Unterschied müssen wir selbst immer auss lebhafteste vor Augen
haben, wenn wir für das Princip der freien Forschung kämpfen.


Zur Vollendung der Erkenntnißlehre, mit besonderer Rücksicht auf Hegel.
Von Vr. Emil Freiherr» von Meysenbug. Berlin, Allgemeine Deutsche
Verlagsanstalt.

7 Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des modernen Materialismus
und stellt sich als seine Hauptaufgabe die Bekämpfung desselben vor. Er sucht
das Absterben der bisherigen Schulen nachzuweisen, namentlich der jüngsten, der
Hegelschen Schule. „Ein Theil, durch die Folgerungen des Junghegelschen
Zweifels abgeschreckt, ist zu älteren Standpunkten zurückgekehrt; derjenige Theil
aber, der sich das Ansetzn gibt, treu bei der Lehre zu beharren, beweist die
wesentliche Abschwächung auch seines Glaubens dadurch, daß demselben keine
Werke nachfolgen." Der Verfasser ist nun zwar der Ansicht, daß durch die
Hegelsche Philosophie der Zweifel nicht so beseitigt ist, wie es in der echten
Philosophie geschehen sollte, aber er hält den Weg, den die deutsche Philosophie
bisher eingeschlagen hat, dennoch im Wesentlichen für den richtigen, und
glaubt, daß nur ein cousequenter Fortgang auf demselben uns über die augen¬
blicklichen Verirrungen wieder hinausführen könne. Einen solchen Fortschritt
will er unternehmen, nur scheint es ihm gerathener, den Versuch früher durch
mündliche Vortrage, als durch eine Schrift zu machen. Das gegenwärtige
Schriftchen soll also zunächst weiter nichts sein, als eine Einladung zu diesen
Vorlesungen. Wir begnügen uns damit, in Beziehung auf dieselben dem Ver¬
fasser zweierlei zu empfehlen: erstens möge er stets sein eignes Wort im Auge
behalten, daß die Wissenschaft, um verständlich zu sein, sich die Mühe geben
müsse, deutsch zu reden; zweitens möge er durch seinen gerechten oder unge¬
rechten Zorn über die modernen Demagogen sich nicht verleiten lassen, Schimpf¬
worte als Argumente zu gebrauchen, wo es sich um eine wissenschaftliche Wider¬
legung handelt. Die nachfolgende Art der Deduction möge er daher in seinen
Vorlesungen vermeiden: „Die Vorstellung des allgemeinen Weltzustandes als


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[0373] zu ziehen, wenn sie ihm nachweist, die freie Wissenschaft sei nicht nur negirend in der Physik und Metaphysik, sondern auch auf dem ethischen Gebiet. Der Staat wird heutzutage Anstand nehmen, denjenigen zu verfolgen, der die Um¬ drehung der Sonne um die Erde leugnet; wenn man ihn aber darauf auf¬ merksam macht, daß derselbe auch den Unterschied des Guten und Bösen leugnet, und daß das Eine nothwendig mit dem Andern zusammenhängt, so wird er in gutem Glauben zu handeln vermeinen, wenn er solchen Einflüsterungen Gehör gibt. Um dies zu vermeiden, müssen wir stets darauf zurückkommen, daß die Naturwissenschaft mit dem Glauben d. h. mit dem Glauben an sitt¬ liche Ideen gar nichts zu thun hat, daß sie ihn weder bekräftigen noch leugnen kann; und diesen Unterschied müssen wir selbst immer auss lebhafteste vor Augen haben, wenn wir für das Princip der freien Forschung kämpfen. Zur Vollendung der Erkenntnißlehre, mit besonderer Rücksicht auf Hegel. Von Vr. Emil Freiherr» von Meysenbug. Berlin, Allgemeine Deutsche Verlagsanstalt. 7 Der Verfasser ist ein entschiedener Gegner des modernen Materialismus und stellt sich als seine Hauptaufgabe die Bekämpfung desselben vor. Er sucht das Absterben der bisherigen Schulen nachzuweisen, namentlich der jüngsten, der Hegelschen Schule. „Ein Theil, durch die Folgerungen des Junghegelschen Zweifels abgeschreckt, ist zu älteren Standpunkten zurückgekehrt; derjenige Theil aber, der sich das Ansetzn gibt, treu bei der Lehre zu beharren, beweist die wesentliche Abschwächung auch seines Glaubens dadurch, daß demselben keine Werke nachfolgen." Der Verfasser ist nun zwar der Ansicht, daß durch die Hegelsche Philosophie der Zweifel nicht so beseitigt ist, wie es in der echten Philosophie geschehen sollte, aber er hält den Weg, den die deutsche Philosophie bisher eingeschlagen hat, dennoch im Wesentlichen für den richtigen, und glaubt, daß nur ein cousequenter Fortgang auf demselben uns über die augen¬ blicklichen Verirrungen wieder hinausführen könne. Einen solchen Fortschritt will er unternehmen, nur scheint es ihm gerathener, den Versuch früher durch mündliche Vortrage, als durch eine Schrift zu machen. Das gegenwärtige Schriftchen soll also zunächst weiter nichts sein, als eine Einladung zu diesen Vorlesungen. Wir begnügen uns damit, in Beziehung auf dieselben dem Ver¬ fasser zweierlei zu empfehlen: erstens möge er stets sein eignes Wort im Auge behalten, daß die Wissenschaft, um verständlich zu sein, sich die Mühe geben müsse, deutsch zu reden; zweitens möge er durch seinen gerechten oder unge¬ rechten Zorn über die modernen Demagogen sich nicht verleiten lassen, Schimpf¬ worte als Argumente zu gebrauchen, wo es sich um eine wissenschaftliche Wider¬ legung handelt. Die nachfolgende Art der Deduction möge er daher in seinen Vorlesungen vermeiden: „Die Vorstellung des allgemeinen Weltzustandes als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/373>, abgerufen am 01.05.2024.