Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

anfängliches Chaos ist der bleibende Zustand derjenigen Form des Wahnwitzes,
welche bestimmt als der Blödsinn zu bezeichnen ist. Nur der Blödsinnige ist
es, der sich keinen rechten Begriff von Gott machen kann. Sowie andererseits
der Schein des ursprünglichen Naturzustandes, der in Verderben übergegangen
und durch halbe Rückkehr zu sich selbst zu verbessern sein soll, sein subjectives
Gegenbild in der Tollheit überhaupt (s. g. Nunia sine clslirio) sich jenen
ersten Zustand der Nacktheit, Wildheit, Besitzlosigkeit, Vielweiberei, (in der
s. g. Nymphomanie), als den wahren sittlichen Zustand des Menschen ein.
Als tolle Sucht (Monomanie) sieht sie denselben als verderbt an, will ihn
aber noch nicht verbessern, sondern nimmt an der vorausgesetzten Verderbnis?,
als Putzsucht, Vergnügungssucht, Hab- und Proceßsucht, Rang- und Titel¬
sucht, eheliche Eifersucht ohne weiteres Theil. Als Raserei und Tobsucht
endlich (s. g. Nanig, einen "Zelirio) glaubt sie sich der vermeintlichen Verderbniß,
dem vermeintlichen Unrechte (der Zwangsjacke) widersetzen und ihren eignen
Zustand, freilich einen halben Naturzustand, wieder hervorrufen zu müssen."


Zur Geschichte der neueren Philosophie. Populäre Vorträge von
G. Weigelt. Hamburg, O. Meißner. --

Der Verfasser hat sich Mühe gegeben, den Entwicklungsgang der deutschen
Philosophie seinem Publicum so objectiv als möglich darzustellen. Da nun
aber jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, sich über das Werthverhältniß
der bisherigen philosophischen Systeme eine bestimmte Ansicht gebildet haben
muß, so kann auch dieses Buch seine subjektive Färbung nicht verleugnen. In
einem wissenschaftlichen Werk, welches zusammenhängende Gründe für und
wider angäbe, würde diese Sujectivität wieder aufgehoben werden; allein wenn
man seine Vorlesungen für ein gemischtes Publicum berechnet, welches weder
die genügende Vorbildung hat, um sich selbst ein Urtheil zu bilden, noch das
Bedürfniß, den gewöhnlichen Weg der Schule zu betreten, behält die subjective
Form leicht etwas Willkürliches. Viele von den Behauptungen des Verfassers
sind uns zwar anderwärts schon häusig vorgekommen, sie sind aber nichtsdesto¬
weniger aus der Luft gegriffen. So z. B. die hundertmal wiederholten Vor¬
würfe gegen Schelling, er habe für die Philosophie ein besonderes Organ,
intellectuelle Anschauung, gefordert. "Die sogenannte intellectuelle Anschauung,"
sagt der Verfasser Seite 172, "weil sie nicht mitgetheilt werden kann, weil sie
eine Gabe der Natur ist, muß dem überlassen bleiben, der sie hat, der dann
zusehen mag, was er damit ausrichtet..... Wir andern müssen auf andre
Weise zur Erkenntniß zu gelangen suchen und uns das Urtheil, daß uns das
höchste Organ abgeht, gefallen lassen. Eine Philosophie, die ein Organ, das
nur wenige haben, als nothwendig voraussetzt, kann schon darum nicht All¬
gemeingut werden. Will sie aber dies, so muß sie von dem ausgehen, was


anfängliches Chaos ist der bleibende Zustand derjenigen Form des Wahnwitzes,
welche bestimmt als der Blödsinn zu bezeichnen ist. Nur der Blödsinnige ist
es, der sich keinen rechten Begriff von Gott machen kann. Sowie andererseits
der Schein des ursprünglichen Naturzustandes, der in Verderben übergegangen
und durch halbe Rückkehr zu sich selbst zu verbessern sein soll, sein subjectives
Gegenbild in der Tollheit überhaupt (s. g. Nunia sine clslirio) sich jenen
ersten Zustand der Nacktheit, Wildheit, Besitzlosigkeit, Vielweiberei, (in der
s. g. Nymphomanie), als den wahren sittlichen Zustand des Menschen ein.
Als tolle Sucht (Monomanie) sieht sie denselben als verderbt an, will ihn
aber noch nicht verbessern, sondern nimmt an der vorausgesetzten Verderbnis?,
als Putzsucht, Vergnügungssucht, Hab- und Proceßsucht, Rang- und Titel¬
sucht, eheliche Eifersucht ohne weiteres Theil. Als Raserei und Tobsucht
endlich (s. g. Nanig, einen «Zelirio) glaubt sie sich der vermeintlichen Verderbniß,
dem vermeintlichen Unrechte (der Zwangsjacke) widersetzen und ihren eignen
Zustand, freilich einen halben Naturzustand, wieder hervorrufen zu müssen."


Zur Geschichte der neueren Philosophie. Populäre Vorträge von
G. Weigelt. Hamburg, O. Meißner. —

Der Verfasser hat sich Mühe gegeben, den Entwicklungsgang der deutschen
Philosophie seinem Publicum so objectiv als möglich darzustellen. Da nun
aber jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, sich über das Werthverhältniß
der bisherigen philosophischen Systeme eine bestimmte Ansicht gebildet haben
muß, so kann auch dieses Buch seine subjektive Färbung nicht verleugnen. In
einem wissenschaftlichen Werk, welches zusammenhängende Gründe für und
wider angäbe, würde diese Sujectivität wieder aufgehoben werden; allein wenn
man seine Vorlesungen für ein gemischtes Publicum berechnet, welches weder
die genügende Vorbildung hat, um sich selbst ein Urtheil zu bilden, noch das
Bedürfniß, den gewöhnlichen Weg der Schule zu betreten, behält die subjective
Form leicht etwas Willkürliches. Viele von den Behauptungen des Verfassers
sind uns zwar anderwärts schon häusig vorgekommen, sie sind aber nichtsdesto¬
weniger aus der Luft gegriffen. So z. B. die hundertmal wiederholten Vor¬
würfe gegen Schelling, er habe für die Philosophie ein besonderes Organ,
intellectuelle Anschauung, gefordert. „Die sogenannte intellectuelle Anschauung,"
sagt der Verfasser Seite 172, „weil sie nicht mitgetheilt werden kann, weil sie
eine Gabe der Natur ist, muß dem überlassen bleiben, der sie hat, der dann
zusehen mag, was er damit ausrichtet..... Wir andern müssen auf andre
Weise zur Erkenntniß zu gelangen suchen und uns das Urtheil, daß uns das
höchste Organ abgeht, gefallen lassen. Eine Philosophie, die ein Organ, das
nur wenige haben, als nothwendig voraussetzt, kann schon darum nicht All¬
gemeingut werden. Will sie aber dies, so muß sie von dem ausgehen, was


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0374" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100294"/>
            <p xml:id="ID_1091" prev="#ID_1090"> anfängliches Chaos ist der bleibende Zustand derjenigen Form des Wahnwitzes,<lb/>
welche bestimmt als der Blödsinn zu bezeichnen ist. Nur der Blödsinnige ist<lb/>
es, der sich keinen rechten Begriff von Gott machen kann. Sowie andererseits<lb/>
der Schein des ursprünglichen Naturzustandes, der in Verderben übergegangen<lb/>
und durch halbe Rückkehr zu sich selbst zu verbessern sein soll, sein subjectives<lb/>
Gegenbild in der Tollheit überhaupt (s. g. Nunia sine clslirio) sich jenen<lb/>
ersten Zustand der Nacktheit, Wildheit, Besitzlosigkeit, Vielweiberei, (in der<lb/>
s. g. Nymphomanie), als den wahren sittlichen Zustand des Menschen ein.<lb/>
Als tolle Sucht (Monomanie) sieht sie denselben als verderbt an, will ihn<lb/>
aber noch nicht verbessern, sondern nimmt an der vorausgesetzten Verderbnis?,<lb/>
als Putzsucht, Vergnügungssucht, Hab- und Proceßsucht, Rang- und Titel¬<lb/>
sucht, eheliche Eifersucht ohne weiteres Theil. Als Raserei und Tobsucht<lb/>
endlich (s. g. Nanig, einen «Zelirio) glaubt sie sich der vermeintlichen Verderbniß,<lb/>
dem vermeintlichen Unrechte (der Zwangsjacke) widersetzen und ihren eignen<lb/>
Zustand, freilich einen halben Naturzustand, wieder hervorrufen zu müssen."</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Zur Geschichte  der neueren Philosophie.   Populäre  Vorträge von<lb/>
G. Weigelt.  Hamburg, O. Meißner. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1092" next="#ID_1093"> Der Verfasser hat sich Mühe gegeben, den Entwicklungsgang der deutschen<lb/>
Philosophie seinem Publicum so objectiv als möglich darzustellen. Da nun<lb/>
aber jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, sich über das Werthverhältniß<lb/>
der bisherigen philosophischen Systeme eine bestimmte Ansicht gebildet haben<lb/>
muß, so kann auch dieses Buch seine subjektive Färbung nicht verleugnen. In<lb/>
einem wissenschaftlichen Werk, welches zusammenhängende Gründe für und<lb/>
wider angäbe, würde diese Sujectivität wieder aufgehoben werden; allein wenn<lb/>
man seine Vorlesungen für ein gemischtes Publicum berechnet, welches weder<lb/>
die genügende Vorbildung hat, um sich selbst ein Urtheil zu bilden, noch das<lb/>
Bedürfniß, den gewöhnlichen Weg der Schule zu betreten, behält die subjective<lb/>
Form leicht etwas Willkürliches. Viele von den Behauptungen des Verfassers<lb/>
sind uns zwar anderwärts schon häusig vorgekommen, sie sind aber nichtsdesto¬<lb/>
weniger aus der Luft gegriffen. So z. B. die hundertmal wiederholten Vor¬<lb/>
würfe gegen Schelling, er habe für die Philosophie ein besonderes Organ,<lb/>
intellectuelle Anschauung, gefordert. &#x201E;Die sogenannte intellectuelle Anschauung,"<lb/>
sagt der Verfasser Seite 172, &#x201E;weil sie nicht mitgetheilt werden kann, weil sie<lb/>
eine Gabe der Natur ist, muß dem überlassen bleiben, der sie hat, der dann<lb/>
zusehen mag, was er damit ausrichtet..... Wir andern müssen auf andre<lb/>
Weise zur Erkenntniß zu gelangen suchen und uns das Urtheil, daß uns das<lb/>
höchste Organ abgeht, gefallen lassen. Eine Philosophie, die ein Organ, das<lb/>
nur wenige haben, als nothwendig voraussetzt, kann schon darum nicht All¬<lb/>
gemeingut werden.  Will sie aber dies, so muß sie von dem ausgehen, was</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0374] anfängliches Chaos ist der bleibende Zustand derjenigen Form des Wahnwitzes, welche bestimmt als der Blödsinn zu bezeichnen ist. Nur der Blödsinnige ist es, der sich keinen rechten Begriff von Gott machen kann. Sowie andererseits der Schein des ursprünglichen Naturzustandes, der in Verderben übergegangen und durch halbe Rückkehr zu sich selbst zu verbessern sein soll, sein subjectives Gegenbild in der Tollheit überhaupt (s. g. Nunia sine clslirio) sich jenen ersten Zustand der Nacktheit, Wildheit, Besitzlosigkeit, Vielweiberei, (in der s. g. Nymphomanie), als den wahren sittlichen Zustand des Menschen ein. Als tolle Sucht (Monomanie) sieht sie denselben als verderbt an, will ihn aber noch nicht verbessern, sondern nimmt an der vorausgesetzten Verderbnis?, als Putzsucht, Vergnügungssucht, Hab- und Proceßsucht, Rang- und Titel¬ sucht, eheliche Eifersucht ohne weiteres Theil. Als Raserei und Tobsucht endlich (s. g. Nanig, einen «Zelirio) glaubt sie sich der vermeintlichen Verderbniß, dem vermeintlichen Unrechte (der Zwangsjacke) widersetzen und ihren eignen Zustand, freilich einen halben Naturzustand, wieder hervorrufen zu müssen." Zur Geschichte der neueren Philosophie. Populäre Vorträge von G. Weigelt. Hamburg, O. Meißner. — Der Verfasser hat sich Mühe gegeben, den Entwicklungsgang der deutschen Philosophie seinem Publicum so objectiv als möglich darzustellen. Da nun aber jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, sich über das Werthverhältniß der bisherigen philosophischen Systeme eine bestimmte Ansicht gebildet haben muß, so kann auch dieses Buch seine subjektive Färbung nicht verleugnen. In einem wissenschaftlichen Werk, welches zusammenhängende Gründe für und wider angäbe, würde diese Sujectivität wieder aufgehoben werden; allein wenn man seine Vorlesungen für ein gemischtes Publicum berechnet, welches weder die genügende Vorbildung hat, um sich selbst ein Urtheil zu bilden, noch das Bedürfniß, den gewöhnlichen Weg der Schule zu betreten, behält die subjective Form leicht etwas Willkürliches. Viele von den Behauptungen des Verfassers sind uns zwar anderwärts schon häusig vorgekommen, sie sind aber nichtsdesto¬ weniger aus der Luft gegriffen. So z. B. die hundertmal wiederholten Vor¬ würfe gegen Schelling, er habe für die Philosophie ein besonderes Organ, intellectuelle Anschauung, gefordert. „Die sogenannte intellectuelle Anschauung," sagt der Verfasser Seite 172, „weil sie nicht mitgetheilt werden kann, weil sie eine Gabe der Natur ist, muß dem überlassen bleiben, der sie hat, der dann zusehen mag, was er damit ausrichtet..... Wir andern müssen auf andre Weise zur Erkenntniß zu gelangen suchen und uns das Urtheil, daß uns das höchste Organ abgeht, gefallen lassen. Eine Philosophie, die ein Organ, das nur wenige haben, als nothwendig voraussetzt, kann schon darum nicht All¬ gemeingut werden. Will sie aber dies, so muß sie von dem ausgehen, was

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/374
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/374>, abgerufen am 22.05.2024.