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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Barsüßele, von B. Auerbach und andere neue Romane.
Barsüßele. Von Berthold Auerbach. Stuttgart und Augsburg, Cvttasche
Buchhandlung. --

Berthold Auerbach hat dach diese neue Dorfgeschichte sich wieder eine
große Zahl von Freunden erworben. Zum Theil rührt das von ihrer heitern
Stimmung her. Seine letzten Erzählungen hatten sast durchweg einen düstern
Charakter; er hatte sich in die innern sittlichen Wirren des Dorflebens vertieft
und die Tragödien entwickelt, die uns in dem gewöhnlichen Leben umgeben.
So vortrefflich einige Seiten deö Landlebens z. B. im Lehnhold dargestellt
waren, so anschaulich die innere Dialektik der Zustände uns entgegentrat, es
war doch keine ganz gesunde Atmosphäre, in der man athmete, und es bleibt
sehr die Frage, ob die Poesie das Recht hat, Ausnahmefälle in einer Form
darzustellen, als ob sie die Regel enthielten. Das Tragische soll uns er¬
schüttern, als harter Widerspruch gegen die Gewohnheit unsers Daseins; wird
es uns zu nahe gerückt, so hört die Freiheit unsers Gemüths auf, das Erhabene
unbefangen nachzuempfinden. Die aufgeregte See ist ein erhabener Anblick,
wenn wir sie vom sichern Ufer betrachten; wenn wir aber im Begriff sind, zu
ertrinken, so hört das Gefühl des Erhabenen auf. Gewiß hat der Dichter
das Recht, sich die Sphäre seiner Handlung frei zu wählen, aber namentlich
wenn er durch eine Reihe von Bildern gewissermaßen die Totalität einer Volks¬
schicht darzustellen unternimmt, muß er sich hüten, ausschließlich die Schatten¬
seiten hervorzuheben, weil er uns sonst ein Zerrbild vorführt. Auerbach befolgt
in der Zusammenstellung seiner Dorfgeschichten eine Sitte, die wir ohnedies
in künstlerischer Beziehung mißbilligen: er verlegt sie fast alle an einen Ort
und läßt, um die Täuschung zu vermehren, in jeder neuen Novelle einen
Theil seiner alten Personen wieder austreten, in der Weise, wie es die Gräfin
Hahn, und Balzac gethan haben. Nun stelle man sich einmal die sämmtlichen
Dorfgeschichten zusammen, die Auerbach in seinen vier Bänden erzählt hat,
und man wird sich nicht erwehren können, den Ort, in dem dieselben alle
vorgefallen sind, als ein zweites Sodom und Gomorrha anzusehen. Verlegt
man seine Geschichten in eine große Stadt, so läßt sich der Leser so etwas
noch eher gefallen, denn hier bleibt noch Raum genug für tugendhafte und
brave Leute, aber in einer engumgrenzten Landgegend darf uns der Dichter
nicht zu viel Greuelthaten berichten, weil unserer Phantasie sonst die Ausnahme
zur Regel wird.

Einen ganz andern Eindruck macht die neue Dorfgeschichte. Wenn auch
viele ernsthafte Ereignisse darin vorkomme", so zeigt sie doch eine überwiegend
heitere Stimmung, und es wird uns nicht die Krankheit, sondern die Ge-


Barsüßele, von B. Auerbach und andere neue Romane.
Barsüßele. Von Berthold Auerbach. Stuttgart und Augsburg, Cvttasche
Buchhandlung. —

Berthold Auerbach hat dach diese neue Dorfgeschichte sich wieder eine
große Zahl von Freunden erworben. Zum Theil rührt das von ihrer heitern
Stimmung her. Seine letzten Erzählungen hatten sast durchweg einen düstern
Charakter; er hatte sich in die innern sittlichen Wirren des Dorflebens vertieft
und die Tragödien entwickelt, die uns in dem gewöhnlichen Leben umgeben.
So vortrefflich einige Seiten deö Landlebens z. B. im Lehnhold dargestellt
waren, so anschaulich die innere Dialektik der Zustände uns entgegentrat, es
war doch keine ganz gesunde Atmosphäre, in der man athmete, und es bleibt
sehr die Frage, ob die Poesie das Recht hat, Ausnahmefälle in einer Form
darzustellen, als ob sie die Regel enthielten. Das Tragische soll uns er¬
schüttern, als harter Widerspruch gegen die Gewohnheit unsers Daseins; wird
es uns zu nahe gerückt, so hört die Freiheit unsers Gemüths auf, das Erhabene
unbefangen nachzuempfinden. Die aufgeregte See ist ein erhabener Anblick,
wenn wir sie vom sichern Ufer betrachten; wenn wir aber im Begriff sind, zu
ertrinken, so hört das Gefühl des Erhabenen auf. Gewiß hat der Dichter
das Recht, sich die Sphäre seiner Handlung frei zu wählen, aber namentlich
wenn er durch eine Reihe von Bildern gewissermaßen die Totalität einer Volks¬
schicht darzustellen unternimmt, muß er sich hüten, ausschließlich die Schatten¬
seiten hervorzuheben, weil er uns sonst ein Zerrbild vorführt. Auerbach befolgt
in der Zusammenstellung seiner Dorfgeschichten eine Sitte, die wir ohnedies
in künstlerischer Beziehung mißbilligen: er verlegt sie fast alle an einen Ort
und läßt, um die Täuschung zu vermehren, in jeder neuen Novelle einen
Theil seiner alten Personen wieder austreten, in der Weise, wie es die Gräfin
Hahn, und Balzac gethan haben. Nun stelle man sich einmal die sämmtlichen
Dorfgeschichten zusammen, die Auerbach in seinen vier Bänden erzählt hat,
und man wird sich nicht erwehren können, den Ort, in dem dieselben alle
vorgefallen sind, als ein zweites Sodom und Gomorrha anzusehen. Verlegt
man seine Geschichten in eine große Stadt, so läßt sich der Leser so etwas
noch eher gefallen, denn hier bleibt noch Raum genug für tugendhafte und
brave Leute, aber in einer engumgrenzten Landgegend darf uns der Dichter
nicht zu viel Greuelthaten berichten, weil unserer Phantasie sonst die Ausnahme
zur Regel wird.

Einen ganz andern Eindruck macht die neue Dorfgeschichte. Wenn auch
viele ernsthafte Ereignisse darin vorkomme», so zeigt sie doch eine überwiegend
heitere Stimmung, und es wird uns nicht die Krankheit, sondern die Ge-


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[0135] Barsüßele, von B. Auerbach und andere neue Romane. Barsüßele. Von Berthold Auerbach. Stuttgart und Augsburg, Cvttasche Buchhandlung. — Berthold Auerbach hat dach diese neue Dorfgeschichte sich wieder eine große Zahl von Freunden erworben. Zum Theil rührt das von ihrer heitern Stimmung her. Seine letzten Erzählungen hatten sast durchweg einen düstern Charakter; er hatte sich in die innern sittlichen Wirren des Dorflebens vertieft und die Tragödien entwickelt, die uns in dem gewöhnlichen Leben umgeben. So vortrefflich einige Seiten deö Landlebens z. B. im Lehnhold dargestellt waren, so anschaulich die innere Dialektik der Zustände uns entgegentrat, es war doch keine ganz gesunde Atmosphäre, in der man athmete, und es bleibt sehr die Frage, ob die Poesie das Recht hat, Ausnahmefälle in einer Form darzustellen, als ob sie die Regel enthielten. Das Tragische soll uns er¬ schüttern, als harter Widerspruch gegen die Gewohnheit unsers Daseins; wird es uns zu nahe gerückt, so hört die Freiheit unsers Gemüths auf, das Erhabene unbefangen nachzuempfinden. Die aufgeregte See ist ein erhabener Anblick, wenn wir sie vom sichern Ufer betrachten; wenn wir aber im Begriff sind, zu ertrinken, so hört das Gefühl des Erhabenen auf. Gewiß hat der Dichter das Recht, sich die Sphäre seiner Handlung frei zu wählen, aber namentlich wenn er durch eine Reihe von Bildern gewissermaßen die Totalität einer Volks¬ schicht darzustellen unternimmt, muß er sich hüten, ausschließlich die Schatten¬ seiten hervorzuheben, weil er uns sonst ein Zerrbild vorführt. Auerbach befolgt in der Zusammenstellung seiner Dorfgeschichten eine Sitte, die wir ohnedies in künstlerischer Beziehung mißbilligen: er verlegt sie fast alle an einen Ort und läßt, um die Täuschung zu vermehren, in jeder neuen Novelle einen Theil seiner alten Personen wieder austreten, in der Weise, wie es die Gräfin Hahn, und Balzac gethan haben. Nun stelle man sich einmal die sämmtlichen Dorfgeschichten zusammen, die Auerbach in seinen vier Bänden erzählt hat, und man wird sich nicht erwehren können, den Ort, in dem dieselben alle vorgefallen sind, als ein zweites Sodom und Gomorrha anzusehen. Verlegt man seine Geschichten in eine große Stadt, so läßt sich der Leser so etwas noch eher gefallen, denn hier bleibt noch Raum genug für tugendhafte und brave Leute, aber in einer engumgrenzten Landgegend darf uns der Dichter nicht zu viel Greuelthaten berichten, weil unserer Phantasie sonst die Ausnahme zur Regel wird. Einen ganz andern Eindruck macht die neue Dorfgeschichte. Wenn auch viele ernsthafte Ereignisse darin vorkomme», so zeigt sie doch eine überwiegend heitere Stimmung, und es wird uns nicht die Krankheit, sondern die Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/135>, abgerufen am 27.04.2024.