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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Die deutschen Mundarten.

Monatschrift für deutsche Mundarten. Herausgegeben von l>>-. Karl Frommann. III.
Jahrgang 1836. Nürnberg, I. M. Weidn er. --

Aus jeder Neigung quillt eine Fülle von Genuß. Welch Entzücken fühlt
ein Verliebter beim Glänze des Fensters der Geliebten; ein Thierforscher beim
Anblick einer seltenen Spinne; ein Pflanzensammler, der hinter alter Mauer
ein Kraut für die Flora seines Kreises entdeckt; der Münzenkundige, dem das
Hökerweib einen Wallensteiner in die Hand drückt, mit dem sie ihn zu betrügen
wähnt? So jauchzt auch die Seele des Sprachforschers beim Fange eines
bäurischen Wortes/das ihm sonst nur auf braungelben Pergament begegnete
und seit Jahrhunderten aus den stolzen Reihen deS stehenden WörterheereS
in den verachteten Landsturm ausgeschieden ward.

Wer Ohren und Hände für die Mundarten hat, und von Frau Saelde,
der deutschen Fortuna, einigermaßen begünstigt wird, durchlebt genußreiche
Stunden, welche durch keinen Liebesschmerz, kein Todeskrümmen eines Thiers,
kein Welken einer Blume, keinen Münzbetrug verdüstert werden. Wer in
Mundarten sammelt, liegt am Fenster, wahrend draußen die Marktweiber
Plaudern, und schreibt gleich einem heimlichen Polizisten verfängliche Worte
aus. Er nimmt an schönen Sommertagen seinen Stab und wandert kreuz und
quer durch das Land; schwatzt mit Mündigen und Unmündigen , ist entzückt
über die furchtbarsten Mundstellungen und die unhöfischesten Ausdrücke, und
kehrt beuteschwer zurück. Im Winter trägt er sorgsam in die Sammelbände
ein, schlägt Quartanten und Folianten auf und lebt dabei den schönen Som¬
mer noch einmal durch. Hinter den Worten tauchen freundliche Landschaften,
hübsche Köpfe und derbe Gesichter hervor und grüßen den fröhlichen Arbeiter.
Denn ein Muudartensammler ist kein grämlicher vertrockneter Geselle; aus der
heiteren Kraft der Volksrede dringt ihm unvermerkt Tropfen auf Tropfen in
die Adern und macht das dicke gelehrte Blut lustig.

Mundart -- Dialekt -- Sprache, so gliedern wir. Die Sprache ist die
umfassende hohe Einheit, gewissermaßen das heilige römische Reich deutscher
Nation; der Dialekt ist ein selbstständig sich bewegendes Hauptglied, um im
Gleichmß zu bleiben, etwa das alte Herzogthum Schwaben; die Mundart ist


Grenzboten. I. 18S7. 41
Die deutschen Mundarten.

Monatschrift für deutsche Mundarten. Herausgegeben von l>>-. Karl Frommann. III.
Jahrgang 1836. Nürnberg, I. M. Weidn er. —

Aus jeder Neigung quillt eine Fülle von Genuß. Welch Entzücken fühlt
ein Verliebter beim Glänze des Fensters der Geliebten; ein Thierforscher beim
Anblick einer seltenen Spinne; ein Pflanzensammler, der hinter alter Mauer
ein Kraut für die Flora seines Kreises entdeckt; der Münzenkundige, dem das
Hökerweib einen Wallensteiner in die Hand drückt, mit dem sie ihn zu betrügen
wähnt? So jauchzt auch die Seele des Sprachforschers beim Fange eines
bäurischen Wortes/das ihm sonst nur auf braungelben Pergament begegnete
und seit Jahrhunderten aus den stolzen Reihen deS stehenden WörterheereS
in den verachteten Landsturm ausgeschieden ward.

Wer Ohren und Hände für die Mundarten hat, und von Frau Saelde,
der deutschen Fortuna, einigermaßen begünstigt wird, durchlebt genußreiche
Stunden, welche durch keinen Liebesschmerz, kein Todeskrümmen eines Thiers,
kein Welken einer Blume, keinen Münzbetrug verdüstert werden. Wer in
Mundarten sammelt, liegt am Fenster, wahrend draußen die Marktweiber
Plaudern, und schreibt gleich einem heimlichen Polizisten verfängliche Worte
aus. Er nimmt an schönen Sommertagen seinen Stab und wandert kreuz und
quer durch das Land; schwatzt mit Mündigen und Unmündigen , ist entzückt
über die furchtbarsten Mundstellungen und die unhöfischesten Ausdrücke, und
kehrt beuteschwer zurück. Im Winter trägt er sorgsam in die Sammelbände
ein, schlägt Quartanten und Folianten auf und lebt dabei den schönen Som¬
mer noch einmal durch. Hinter den Worten tauchen freundliche Landschaften,
hübsche Köpfe und derbe Gesichter hervor und grüßen den fröhlichen Arbeiter.
Denn ein Muudartensammler ist kein grämlicher vertrockneter Geselle; aus der
heiteren Kraft der Volksrede dringt ihm unvermerkt Tropfen auf Tropfen in
die Adern und macht das dicke gelehrte Blut lustig.

Mundart — Dialekt — Sprache, so gliedern wir. Die Sprache ist die
umfassende hohe Einheit, gewissermaßen das heilige römische Reich deutscher
Nation; der Dialekt ist ein selbstständig sich bewegendes Hauptglied, um im
Gleichmß zu bleiben, etwa das alte Herzogthum Schwaben; die Mundart ist


Grenzboten. I. 18S7. 41
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[0329] Die deutschen Mundarten. Monatschrift für deutsche Mundarten. Herausgegeben von l>>-. Karl Frommann. III. Jahrgang 1836. Nürnberg, I. M. Weidn er. — Aus jeder Neigung quillt eine Fülle von Genuß. Welch Entzücken fühlt ein Verliebter beim Glänze des Fensters der Geliebten; ein Thierforscher beim Anblick einer seltenen Spinne; ein Pflanzensammler, der hinter alter Mauer ein Kraut für die Flora seines Kreises entdeckt; der Münzenkundige, dem das Hökerweib einen Wallensteiner in die Hand drückt, mit dem sie ihn zu betrügen wähnt? So jauchzt auch die Seele des Sprachforschers beim Fange eines bäurischen Wortes/das ihm sonst nur auf braungelben Pergament begegnete und seit Jahrhunderten aus den stolzen Reihen deS stehenden WörterheereS in den verachteten Landsturm ausgeschieden ward. Wer Ohren und Hände für die Mundarten hat, und von Frau Saelde, der deutschen Fortuna, einigermaßen begünstigt wird, durchlebt genußreiche Stunden, welche durch keinen Liebesschmerz, kein Todeskrümmen eines Thiers, kein Welken einer Blume, keinen Münzbetrug verdüstert werden. Wer in Mundarten sammelt, liegt am Fenster, wahrend draußen die Marktweiber Plaudern, und schreibt gleich einem heimlichen Polizisten verfängliche Worte aus. Er nimmt an schönen Sommertagen seinen Stab und wandert kreuz und quer durch das Land; schwatzt mit Mündigen und Unmündigen , ist entzückt über die furchtbarsten Mundstellungen und die unhöfischesten Ausdrücke, und kehrt beuteschwer zurück. Im Winter trägt er sorgsam in die Sammelbände ein, schlägt Quartanten und Folianten auf und lebt dabei den schönen Som¬ mer noch einmal durch. Hinter den Worten tauchen freundliche Landschaften, hübsche Köpfe und derbe Gesichter hervor und grüßen den fröhlichen Arbeiter. Denn ein Muudartensammler ist kein grämlicher vertrockneter Geselle; aus der heiteren Kraft der Volksrede dringt ihm unvermerkt Tropfen auf Tropfen in die Adern und macht das dicke gelehrte Blut lustig. Mundart — Dialekt — Sprache, so gliedern wir. Die Sprache ist die umfassende hohe Einheit, gewissermaßen das heilige römische Reich deutscher Nation; der Dialekt ist ein selbstständig sich bewegendes Hauptglied, um im Gleichmß zu bleiben, etwa das alte Herzogthum Schwaben; die Mundart ist Grenzboten. I. 18S7. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/329>, abgerufen am 27.04.2024.