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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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ein Stück dieses Gliedes, das seine eigne Bildung hat, aber mit jenem eng
zusammenhängt: etwa die Bar oder das Elsaß.

Das Gesammtgebiet einer Sprache zerfällt also in Dialekte, und diese in
Mundarten. Die Sprache ist die Mutter, die Dialekte sind die Töchter, die
Mundarten die Enkelinnen, und bei der Fruchtbarkeit des Geschlechts haben
sich diese stark vermehrt. Dieser sinnlichen Kraft gegenüber ist das einigende
strenge Gesetz des Geistes durchaus nothwendig, das in der Schriftsprache zur
Erscheinung kommt.

Das Deutsche war auch einmal eine Mundart, die sich im fernen Osten
in irgend einem Thale aus der Ursprache der vorderasiatischen Völkerheimath
Hervorrang. Mit des Stammes Wachsen, der sie redete, wuchs sie zum Dia¬
lekte, dex um sich herum in gleicher Art eine kleine Schar nah verwandter
sich bilden sah. Die Stämme wurden zu Völkerschaften, die alten Sitze wur¬
den zu enge und der Wandertrieb brach los. Die meisten Völker zogen nach
Sonnenuntergang, hinüber nach Europa. Auch die Deutschen machten sich auf
mit ihrer selbstständig gewordenen Sprache. Am schwarzen Meere und den Flächen
bis ins siebenbürgische Hochland hinein lagerten sie zuerst längere Zeit. Dann
zogen sie weiter hinauf gen Mitternacht: die einen eroberten die weiten Ebenen
von der Weichsel bis zum Niederrhein, die andern gingen nach Skandinavien
hinüber. Blutige Kämpfe mit Kelten und Römern erwarben den festländischen
Germanen alsdann große Länder im Süden und im Westen. Bleibend wurde
der Besitz bis in die Alpen und auf dem linken Ufer des Rheins.

Aus dem kleinen Stamme war ein großes, mächtiges Volk geworden, daS
in eine Menge Stämme und Völkerschaften zertheilt war. In Geschichte und
Wohnsitzen verschieden geworden, hatten sie auch die Uebereinstimmung ihrer
Sprache verloren. Der Grundbau des Leibes und die Familienzüge des Ant¬
litzes blieben zwar kenntlich; aber die Farbe der Vocale und die Spannung
der konsonantischen Muskeln änderte sich mehrfach. Es geschah in den ersten
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, daß von der gothischen Sprache, die uns
die Züge der alten Mutter am treusten bewahrte, sich das Nordische und das
Sächsische, und etwas später mit weiterer Veränderung das Hochdeutsche ab¬
zweigten. Diese Erscheinung griff weiter, und se> bestanden im siebenten Jahr¬
hundert folgende germanische Dialekte: der gothische, der nordische, der frie¬
sische, der sächsische, der fränkische, der thüringische, der hochdeutsche. Das
Gothische lebte nach der Vernichtung der Ostgothen und Vandalen nur noch
bei den Westgothen und einem auf der Krim zurückgebliebenen Stamme,
das Nordische redeten die Norweger, Schweden, Ganten und Dänen; das
Sächsische die West- und Ostfalen, die Engern und die Angelsachsen ; daS Hoch¬
deutsche die Schwaben, Baiern und Langobarden.

Wir wollen hier keine Geschichte der germanischen Sprachen entwerfen;


ein Stück dieses Gliedes, das seine eigne Bildung hat, aber mit jenem eng
zusammenhängt: etwa die Bar oder das Elsaß.

Das Gesammtgebiet einer Sprache zerfällt also in Dialekte, und diese in
Mundarten. Die Sprache ist die Mutter, die Dialekte sind die Töchter, die
Mundarten die Enkelinnen, und bei der Fruchtbarkeit des Geschlechts haben
sich diese stark vermehrt. Dieser sinnlichen Kraft gegenüber ist das einigende
strenge Gesetz des Geistes durchaus nothwendig, das in der Schriftsprache zur
Erscheinung kommt.

Das Deutsche war auch einmal eine Mundart, die sich im fernen Osten
in irgend einem Thale aus der Ursprache der vorderasiatischen Völkerheimath
Hervorrang. Mit des Stammes Wachsen, der sie redete, wuchs sie zum Dia¬
lekte, dex um sich herum in gleicher Art eine kleine Schar nah verwandter
sich bilden sah. Die Stämme wurden zu Völkerschaften, die alten Sitze wur¬
den zu enge und der Wandertrieb brach los. Die meisten Völker zogen nach
Sonnenuntergang, hinüber nach Europa. Auch die Deutschen machten sich auf
mit ihrer selbstständig gewordenen Sprache. Am schwarzen Meere und den Flächen
bis ins siebenbürgische Hochland hinein lagerten sie zuerst längere Zeit. Dann
zogen sie weiter hinauf gen Mitternacht: die einen eroberten die weiten Ebenen
von der Weichsel bis zum Niederrhein, die andern gingen nach Skandinavien
hinüber. Blutige Kämpfe mit Kelten und Römern erwarben den festländischen
Germanen alsdann große Länder im Süden und im Westen. Bleibend wurde
der Besitz bis in die Alpen und auf dem linken Ufer des Rheins.

Aus dem kleinen Stamme war ein großes, mächtiges Volk geworden, daS
in eine Menge Stämme und Völkerschaften zertheilt war. In Geschichte und
Wohnsitzen verschieden geworden, hatten sie auch die Uebereinstimmung ihrer
Sprache verloren. Der Grundbau des Leibes und die Familienzüge des Ant¬
litzes blieben zwar kenntlich; aber die Farbe der Vocale und die Spannung
der konsonantischen Muskeln änderte sich mehrfach. Es geschah in den ersten
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, daß von der gothischen Sprache, die uns
die Züge der alten Mutter am treusten bewahrte, sich das Nordische und das
Sächsische, und etwas später mit weiterer Veränderung das Hochdeutsche ab¬
zweigten. Diese Erscheinung griff weiter, und se> bestanden im siebenten Jahr¬
hundert folgende germanische Dialekte: der gothische, der nordische, der frie¬
sische, der sächsische, der fränkische, der thüringische, der hochdeutsche. Das
Gothische lebte nach der Vernichtung der Ostgothen und Vandalen nur noch
bei den Westgothen und einem auf der Krim zurückgebliebenen Stamme,
das Nordische redeten die Norweger, Schweden, Ganten und Dänen; das
Sächsische die West- und Ostfalen, die Engern und die Angelsachsen ; daS Hoch¬
deutsche die Schwaben, Baiern und Langobarden.

Wir wollen hier keine Geschichte der germanischen Sprachen entwerfen;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/330>, abgerufen am 09.05.2024.