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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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erkor. Herr Laguerronniere wollte seine Unparteilichkeit, seine Mäßigung an
allen Parteien üben und er wählte General Cavaignac, um die Genugthuung
zu haben, auch einen Republikaner mit seinem Lobe erfreuen zu können.




Deutsche Bildung unter Eschen und Letten.

Seitdem Kohl seine Reise durch die russischen Ostseeprovinzen, als Erst,
lingswerk seiner schriftstellerischen Thätigkeit veröffentlicht hat, ist viel ge¬
schrieben worden, um Deutschland über die Zustände und Verhältnisse dieser
dem deutschen Neichsverbande wol auf immer entrissenen Länder auf¬
zuklären. Man macht sich schon richtigere Begriffe von der Beschaffenheit
jener Ebenen, ihrer weiten, fruchtbaren Ackerflächen, begrenzt von elegischen
Birken- und düstern Nadelwaldungen, ihrer trostlosen Moräste, durchzogen von
trüb dahin schleichenden Flüssen und sumpfbekränzten Seen, ihrer flachen,
sandigen, nur am finnischen Busen rascher ansteigenden Küsten. Man kennt
die klimatischen Eigenthümlichkeiten dieser von keinem natürlichen Walle ge¬
schützten Grenze der gemäßigten Zone, ihren kurzen, heißen, die Arbeitskräfte
der Bewohner aufreibenden Sommer, den stürmischen, regnerischen Herbst,
den langen, kalten, seinem wetterwendischen deutschen Bruder unähnlichen
Winter, ihren kaum den Namen verdienenden Lenz; die magisch hellen Sommer¬
nächte, in denen der Vollmond um Mitternacht in dem Kampfe mit dem
Morgenroth unterliegt, die ewig dünkende, winterliche Dunkelheit, in der beim
röthlichen Scheine des Nordlichts der räuberische Wolf seine Streifzüge voll¬
bringt. Man ist endlich nicht mehr in dem Grade, wie sonst, den deutschen
Bewohnern dieser Gegenden entfremdet; man hört gern ihre vialektlose, reine
Sprache; man bewundert ihr ungezwungenes, feines Benehmen im geselligen
Leben; man schätzt, wenn man sie näher kennen lernt, ihre Biederkeit und
Gastfreundlichkeit; man weiß, daß ihre Bildung ganz auf deutschen Elementen
beruht und daß sie eifrig bemüht sind, hierin mit uns gleichen Schritt zu
halten, daß sie also auf der geistigen Seite noch fest zu uns stehen, und man
verzeiht ihnen dann, wenn sie aus Anhänglichkeit an altverbrieste Vorrechte
und aus Furcht vor den schwankenden Verhältnissen des Auslandes ihre starren
Satzungen und mangelhaften Einrichtungen den unsrigen weit vorziehen. Nur
einen wunden Fleck darf man nicht berühren, ohne Gefahr zu laufen, sie und
besonders ihre Vorfahren der politischen Kurzsichtigkeit und eines historischen
Unrechts zu beschuldigen: den Zustand ihrer hörigen Bauern. Auf den ersten
Blick freilich scheint eS von großer Humanität und christlicher Milde zu zeugen,


erkor. Herr Laguerronniere wollte seine Unparteilichkeit, seine Mäßigung an
allen Parteien üben und er wählte General Cavaignac, um die Genugthuung
zu haben, auch einen Republikaner mit seinem Lobe erfreuen zu können.




Deutsche Bildung unter Eschen und Letten.

Seitdem Kohl seine Reise durch die russischen Ostseeprovinzen, als Erst,
lingswerk seiner schriftstellerischen Thätigkeit veröffentlicht hat, ist viel ge¬
schrieben worden, um Deutschland über die Zustände und Verhältnisse dieser
dem deutschen Neichsverbande wol auf immer entrissenen Länder auf¬
zuklären. Man macht sich schon richtigere Begriffe von der Beschaffenheit
jener Ebenen, ihrer weiten, fruchtbaren Ackerflächen, begrenzt von elegischen
Birken- und düstern Nadelwaldungen, ihrer trostlosen Moräste, durchzogen von
trüb dahin schleichenden Flüssen und sumpfbekränzten Seen, ihrer flachen,
sandigen, nur am finnischen Busen rascher ansteigenden Küsten. Man kennt
die klimatischen Eigenthümlichkeiten dieser von keinem natürlichen Walle ge¬
schützten Grenze der gemäßigten Zone, ihren kurzen, heißen, die Arbeitskräfte
der Bewohner aufreibenden Sommer, den stürmischen, regnerischen Herbst,
den langen, kalten, seinem wetterwendischen deutschen Bruder unähnlichen
Winter, ihren kaum den Namen verdienenden Lenz; die magisch hellen Sommer¬
nächte, in denen der Vollmond um Mitternacht in dem Kampfe mit dem
Morgenroth unterliegt, die ewig dünkende, winterliche Dunkelheit, in der beim
röthlichen Scheine des Nordlichts der räuberische Wolf seine Streifzüge voll¬
bringt. Man ist endlich nicht mehr in dem Grade, wie sonst, den deutschen
Bewohnern dieser Gegenden entfremdet; man hört gern ihre vialektlose, reine
Sprache; man bewundert ihr ungezwungenes, feines Benehmen im geselligen
Leben; man schätzt, wenn man sie näher kennen lernt, ihre Biederkeit und
Gastfreundlichkeit; man weiß, daß ihre Bildung ganz auf deutschen Elementen
beruht und daß sie eifrig bemüht sind, hierin mit uns gleichen Schritt zu
halten, daß sie also auf der geistigen Seite noch fest zu uns stehen, und man
verzeiht ihnen dann, wenn sie aus Anhänglichkeit an altverbrieste Vorrechte
und aus Furcht vor den schwankenden Verhältnissen des Auslandes ihre starren
Satzungen und mangelhaften Einrichtungen den unsrigen weit vorziehen. Nur
einen wunden Fleck darf man nicht berühren, ohne Gefahr zu laufen, sie und
besonders ihre Vorfahren der politischen Kurzsichtigkeit und eines historischen
Unrechts zu beschuldigen: den Zustand ihrer hörigen Bauern. Auf den ersten
Blick freilich scheint eS von großer Humanität und christlicher Milde zu zeugen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/470>, abgerufen am 27.04.2024.