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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Französische Geschichtschrcher.
4. Augustin Thierry.

Die letzten Jahre der Restaurationszeit waren für die Entwicklung der
französischen Literatur eine der erfreulichsten Perioden. Das eiserne Joch
Napoleons hatte alle Kräfte der Nation entweder niedergedrückt, oder sie we¬
nigstens nach einer bestimmten einseitigen Richtung getrieben. Unter der Herr¬
schaft der Bourbons, so wenig dieselbe mit den Ideen der Freiheit sympathi-
sirte, athmete alles wieder auf, und sür die Vielseitigkeit der Tendenzen, die
sich nun geltend machten, fanden sich auch die entsprechenden Kräfte und
Talente. Wenn das Königthum den geistigen Erwerb der Revolution in
Frage stellte, so hatte es doch weder die Macht, noch selbst den entschlossenen
Willen, gegen denselben einen Vernichtungskrieg zu führen, und die Vertreter
der Priester- und Adelsherrschaft hatten keinen andern Erfolg, als daß sie
die Freunde der Freiheit und der volksthümlichen Entwicklung zu einer neuen
leidenschaftlichen Erhebung veranlaßten. Selbst die poetische Schule, die für
den Absolutismus, für das Mittelalter und für die Kirche zu schwärmen schien,
wurde allmälig in die Opposition gedrängt, und wenn bei dem bewunderten
Führer derselben, bei Chateaubriand, in dieser Umstimmung persönliche Motive
mit unterliefen, so war es bei seinen Schülern und Schützlingen, Victor Hugo
und den übrigen Romantikern, die innere Dialektik eines sich selbst unklaren
literarischen Strebens, die aus den Lobpreisern des Bestehenden seine Feinde
"weckte. Die Versuche dieser neuen poetischen Schule hat man in Deutsch¬
land mit großem Interesse verfolgt, weil man sich zuerst über den Sinn der
Bewegung täuschte und der Ueberzeugung war, sie sei weiter nichts als eine
Fortsetzung des von Lesstng, Goethe und Schiller angeregten Kampfes gegen
den akademischen Classtcismuö. Man wurde in dieser Beziehung bald ent¬
täuscht, wie man über die Tragweite der ersten Revolution enttäuscht worden
war, und auf die erste Anerkennung folgte jenes Mißbehagen, welches nicht
ausbleiben kann, wenn man die Zerrbilder seines eignen Strebens vor sich sieht.

Weniger Aufmerksamkeit hat man diesseit des Rheins einer zweiten Be-


Grenzboten. I. t8S7. 44
Französische Geschichtschrcher.
4. Augustin Thierry.

Die letzten Jahre der Restaurationszeit waren für die Entwicklung der
französischen Literatur eine der erfreulichsten Perioden. Das eiserne Joch
Napoleons hatte alle Kräfte der Nation entweder niedergedrückt, oder sie we¬
nigstens nach einer bestimmten einseitigen Richtung getrieben. Unter der Herr¬
schaft der Bourbons, so wenig dieselbe mit den Ideen der Freiheit sympathi-
sirte, athmete alles wieder auf, und sür die Vielseitigkeit der Tendenzen, die
sich nun geltend machten, fanden sich auch die entsprechenden Kräfte und
Talente. Wenn das Königthum den geistigen Erwerb der Revolution in
Frage stellte, so hatte es doch weder die Macht, noch selbst den entschlossenen
Willen, gegen denselben einen Vernichtungskrieg zu führen, und die Vertreter
der Priester- und Adelsherrschaft hatten keinen andern Erfolg, als daß sie
die Freunde der Freiheit und der volksthümlichen Entwicklung zu einer neuen
leidenschaftlichen Erhebung veranlaßten. Selbst die poetische Schule, die für
den Absolutismus, für das Mittelalter und für die Kirche zu schwärmen schien,
wurde allmälig in die Opposition gedrängt, und wenn bei dem bewunderten
Führer derselben, bei Chateaubriand, in dieser Umstimmung persönliche Motive
mit unterliefen, so war es bei seinen Schülern und Schützlingen, Victor Hugo
und den übrigen Romantikern, die innere Dialektik eines sich selbst unklaren
literarischen Strebens, die aus den Lobpreisern des Bestehenden seine Feinde
«weckte. Die Versuche dieser neuen poetischen Schule hat man in Deutsch¬
land mit großem Interesse verfolgt, weil man sich zuerst über den Sinn der
Bewegung täuschte und der Ueberzeugung war, sie sei weiter nichts als eine
Fortsetzung des von Lesstng, Goethe und Schiller angeregten Kampfes gegen
den akademischen Classtcismuö. Man wurde in dieser Beziehung bald ent¬
täuscht, wie man über die Tragweite der ersten Revolution enttäuscht worden
war, und auf die erste Anerkennung folgte jenes Mißbehagen, welches nicht
ausbleiben kann, wenn man die Zerrbilder seines eignen Strebens vor sich sieht.

Weniger Aufmerksamkeit hat man diesseit des Rheins einer zweiten Be-


Grenzboten. I. t8S7. 44
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[0089] Französische Geschichtschrcher. 4. Augustin Thierry. Die letzten Jahre der Restaurationszeit waren für die Entwicklung der französischen Literatur eine der erfreulichsten Perioden. Das eiserne Joch Napoleons hatte alle Kräfte der Nation entweder niedergedrückt, oder sie we¬ nigstens nach einer bestimmten einseitigen Richtung getrieben. Unter der Herr¬ schaft der Bourbons, so wenig dieselbe mit den Ideen der Freiheit sympathi- sirte, athmete alles wieder auf, und sür die Vielseitigkeit der Tendenzen, die sich nun geltend machten, fanden sich auch die entsprechenden Kräfte und Talente. Wenn das Königthum den geistigen Erwerb der Revolution in Frage stellte, so hatte es doch weder die Macht, noch selbst den entschlossenen Willen, gegen denselben einen Vernichtungskrieg zu führen, und die Vertreter der Priester- und Adelsherrschaft hatten keinen andern Erfolg, als daß sie die Freunde der Freiheit und der volksthümlichen Entwicklung zu einer neuen leidenschaftlichen Erhebung veranlaßten. Selbst die poetische Schule, die für den Absolutismus, für das Mittelalter und für die Kirche zu schwärmen schien, wurde allmälig in die Opposition gedrängt, und wenn bei dem bewunderten Führer derselben, bei Chateaubriand, in dieser Umstimmung persönliche Motive mit unterliefen, so war es bei seinen Schülern und Schützlingen, Victor Hugo und den übrigen Romantikern, die innere Dialektik eines sich selbst unklaren literarischen Strebens, die aus den Lobpreisern des Bestehenden seine Feinde «weckte. Die Versuche dieser neuen poetischen Schule hat man in Deutsch¬ land mit großem Interesse verfolgt, weil man sich zuerst über den Sinn der Bewegung täuschte und der Ueberzeugung war, sie sei weiter nichts als eine Fortsetzung des von Lesstng, Goethe und Schiller angeregten Kampfes gegen den akademischen Classtcismuö. Man wurde in dieser Beziehung bald ent¬ täuscht, wie man über die Tragweite der ersten Revolution enttäuscht worden war, und auf die erste Anerkennung folgte jenes Mißbehagen, welches nicht ausbleiben kann, wenn man die Zerrbilder seines eignen Strebens vor sich sieht. Weniger Aufmerksamkeit hat man diesseit des Rheins einer zweiten Be- Grenzboten. I. t8S7. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/89>, abgerufen am 27.04.2024.