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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Hegel und seine Zeit.

Von R. Haym. Berlin, Gärtner.--

Fast ein Menschenalter hindurch hat die hegelsche Philosophie in einem
Umfang, wie eS kaum einer ihrer Vorgängerinnen gelungen war, die deutsche
Bildung beherrscht. Nachdem sie zuerst in einem beschränkten Kreise Einge¬
weihter wie ein Mysterium gehegt war, wurde sie in der Periode der Restau¬
ration vom preußischen Staat gewissermaßen als officielle Philosophie aner¬
kannt. Die meisten .philosophischen Lehrstühle wurden an Hegelianer ge¬
geben, zur Erwerbung eines Lehramts war es fast unumgänglich, sich wenig¬
stens mit den Kunstausdrücken der Schule bekannt gemacht zu haben; eine
zahlreiche, eifrige und talentvolle Jüngerschaft übertrug die Ideen des Meisters
mit Erfolg auf die verschiedenen wissenschaftlichen Gebiete, die Jurisprudenz
und Politik wurde zum Erstaunen der alten Juristen nach den Kategorien des
"An sich", deS "Für sich" und des "An und für sich" geordnet; die Poeten,
Maler, Schauspieler holten sich bei der hegelschen Aesthetik Rath, man ging
sogar damit um, in Berlin eine hegelsche Theaterschule einzurichten. Am
meisten wurde die Geschichte von diesen Ideen befruchtet, und wenn sich auch
die Männer von Fach gegen die metaphvsische Construction der Thatsachen
sträubten^ so ließen sie es sich doch wol gefallen, durch die hegelschen Augen,
glaser ihre Sehweite für umfassende Perspectiven zu schärfen. Die Dogmatik
war erfreut, sich die Dreieinigkeit auch unter der Form des Begriffs vergegen¬
wärtigen zu können, und.es erhob sich eine neue Orthodoxie, die sich nicht
mehr ausschließlich auf die Kraft deS Glaubens, sondern auf die Höhe der
Bildung stützte. Die neue Speculation hatte ihren Bekennern ein so starkes
Selbstgefühl eingeflößt, daß der Laie ihnen gegenüber in Verzweiflung war;
denn waS man ihnen für Ansichten oder Gründe entgegenhalten mochte, sie
wiesen lächelnd auf den Paragraphen des Systems hin, in dem diese Ansichten
und Gründe bereits "aufgehoben" d. h. zugleich in ihrer relativen Berechtigung
""erkannt und von einem höhern Standpunkt aus widerlegt seien. ^Es gab
nichts in der Welt, was sie nicht besser wußten als jeder andere; die Cultur¬
geschichte schien ihr Ziel erreicht zu haben, und keine weitere Fortbewegung
möglich zu sein.


Grenzboten. IV. 18L7. L-6
Hegel und seine Zeit.

Von R. Haym. Berlin, Gärtner.—

Fast ein Menschenalter hindurch hat die hegelsche Philosophie in einem
Umfang, wie eS kaum einer ihrer Vorgängerinnen gelungen war, die deutsche
Bildung beherrscht. Nachdem sie zuerst in einem beschränkten Kreise Einge¬
weihter wie ein Mysterium gehegt war, wurde sie in der Periode der Restau¬
ration vom preußischen Staat gewissermaßen als officielle Philosophie aner¬
kannt. Die meisten .philosophischen Lehrstühle wurden an Hegelianer ge¬
geben, zur Erwerbung eines Lehramts war es fast unumgänglich, sich wenig¬
stens mit den Kunstausdrücken der Schule bekannt gemacht zu haben; eine
zahlreiche, eifrige und talentvolle Jüngerschaft übertrug die Ideen des Meisters
mit Erfolg auf die verschiedenen wissenschaftlichen Gebiete, die Jurisprudenz
und Politik wurde zum Erstaunen der alten Juristen nach den Kategorien des
„An sich", deS „Für sich" und des „An und für sich" geordnet; die Poeten,
Maler, Schauspieler holten sich bei der hegelschen Aesthetik Rath, man ging
sogar damit um, in Berlin eine hegelsche Theaterschule einzurichten. Am
meisten wurde die Geschichte von diesen Ideen befruchtet, und wenn sich auch
die Männer von Fach gegen die metaphvsische Construction der Thatsachen
sträubten^ so ließen sie es sich doch wol gefallen, durch die hegelschen Augen,
glaser ihre Sehweite für umfassende Perspectiven zu schärfen. Die Dogmatik
war erfreut, sich die Dreieinigkeit auch unter der Form des Begriffs vergegen¬
wärtigen zu können, und.es erhob sich eine neue Orthodoxie, die sich nicht
mehr ausschließlich auf die Kraft deS Glaubens, sondern auf die Höhe der
Bildung stützte. Die neue Speculation hatte ihren Bekennern ein so starkes
Selbstgefühl eingeflößt, daß der Laie ihnen gegenüber in Verzweiflung war;
denn waS man ihnen für Ansichten oder Gründe entgegenhalten mochte, sie
wiesen lächelnd auf den Paragraphen des Systems hin, in dem diese Ansichten
und Gründe bereits „aufgehoben" d. h. zugleich in ihrer relativen Berechtigung
«»erkannt und von einem höhern Standpunkt aus widerlegt seien. ^Es gab
nichts in der Welt, was sie nicht besser wußten als jeder andere; die Cultur¬
geschichte schien ihr Ziel erreicht zu haben, und keine weitere Fortbewegung
möglich zu sein.


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[0369] Hegel und seine Zeit. Von R. Haym. Berlin, Gärtner.— Fast ein Menschenalter hindurch hat die hegelsche Philosophie in einem Umfang, wie eS kaum einer ihrer Vorgängerinnen gelungen war, die deutsche Bildung beherrscht. Nachdem sie zuerst in einem beschränkten Kreise Einge¬ weihter wie ein Mysterium gehegt war, wurde sie in der Periode der Restau¬ ration vom preußischen Staat gewissermaßen als officielle Philosophie aner¬ kannt. Die meisten .philosophischen Lehrstühle wurden an Hegelianer ge¬ geben, zur Erwerbung eines Lehramts war es fast unumgänglich, sich wenig¬ stens mit den Kunstausdrücken der Schule bekannt gemacht zu haben; eine zahlreiche, eifrige und talentvolle Jüngerschaft übertrug die Ideen des Meisters mit Erfolg auf die verschiedenen wissenschaftlichen Gebiete, die Jurisprudenz und Politik wurde zum Erstaunen der alten Juristen nach den Kategorien des „An sich", deS „Für sich" und des „An und für sich" geordnet; die Poeten, Maler, Schauspieler holten sich bei der hegelschen Aesthetik Rath, man ging sogar damit um, in Berlin eine hegelsche Theaterschule einzurichten. Am meisten wurde die Geschichte von diesen Ideen befruchtet, und wenn sich auch die Männer von Fach gegen die metaphvsische Construction der Thatsachen sträubten^ so ließen sie es sich doch wol gefallen, durch die hegelschen Augen, glaser ihre Sehweite für umfassende Perspectiven zu schärfen. Die Dogmatik war erfreut, sich die Dreieinigkeit auch unter der Form des Begriffs vergegen¬ wärtigen zu können, und.es erhob sich eine neue Orthodoxie, die sich nicht mehr ausschließlich auf die Kraft deS Glaubens, sondern auf die Höhe der Bildung stützte. Die neue Speculation hatte ihren Bekennern ein so starkes Selbstgefühl eingeflößt, daß der Laie ihnen gegenüber in Verzweiflung war; denn waS man ihnen für Ansichten oder Gründe entgegenhalten mochte, sie wiesen lächelnd auf den Paragraphen des Systems hin, in dem diese Ansichten und Gründe bereits „aufgehoben" d. h. zugleich in ihrer relativen Berechtigung «»erkannt und von einem höhern Standpunkt aus widerlegt seien. ^Es gab nichts in der Welt, was sie nicht besser wußten als jeder andere; die Cultur¬ geschichte schien ihr Ziel erreicht zu haben, und keine weitere Fortbewegung möglich zu sein. Grenzboten. IV. 18L7. L-6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/369>, abgerufen am 30.04.2024.