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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Handwerker sind etwas nach der Schablone gearbeitet. Ludwig entlehnt fast
regelmäßig von den Eigenthümlichkeiten des Handwerks die Physiognomie und
Haltung der Person. Das macht im Anfang Spaß, aber zuletzt wird es er¬
müdend, abgesehn davon, daß es gegen die Wirklichkeit verstößt.

Wenn die Verwandtschaft mit Jeremias Gotthelf in der Natur der bei¬
den Männer liegt, so ist das Verhältniß zu Auerbach mehr äußerlich. Auer-
bachs Schriften haben auf Ludwig sehr bedeutend eingewirkt und nicht immer
zu seinem Bortheil. Namentlich hat er sich von ihm die Maxime des tabula,
clooöl angeeignet d. h. wenn er einen interessanten Zug erzählt hat, so macht
er den Leser auf die allgemeine Regel aufmerksam, die darin liegt und sucht
dieser Regel die möglichst bedeutende Form zu geben. Unsere Dichter sollten
ihrem Publicum mehr zutraun. Wenn das Bild, das sie geben, wirklich
bedeuteno und naturtreu ist, so wird der Leser schon dahinter kommen was sie
eigentlich meinen. Bei Auerbach ist diese Methode natürlich, denn er sieht
die Regel vor dem einzelnen Fall, oder wenn das nicht, er faßt den empirisch
aufgenommenen einzelnen Fall sogleich in der Form der Regel, und so schöne
Farben er zu finden weiß, die Reflexion ist ihm doch die Hauptsache. Bei
Ludwig dagegen ist die Reflexion künstlich gemacht und nebenbei ist das
Apercu nicht seine Stärke; sein Ausdruck, in der Erzählung so kräftig und
bezeichnend, wird unbehilflich, sobald er seine Gedanken zusammendrängen will-
Er ist Dichter genug, um mit Ruhe das Geschäft deö Commentators seinen
Kritikern überlassen zu können.

Der Dichter schafft nicht, wann und wie er will. Möchte die Gunst des
Himmels, die Ludwig vielleicht mehr als irgend einen andern deutschen Dichter be¬
fähigt hat, starke Leidenschaften, düstere und heitere Stimmungen mit hin¬
reißender Kraft zu versinnlichen, ihm das Glück verleihn, ein harmonisches
Gebilde zu schaffen, das, gleichviel ob komisch oder tragisch, den Frieden und
die Gesundheit unter den Menschen vermehrt. Sein Name wird dann unter
I. S. den besten unserer Literatur genannt werden.




Kleine ästhetische Streisziige.
'2.

Indem wir eine Reihe von Commentaren über frühere Dichtungen an-
Mgen, eine Gattung der Literatur, die so recht unsere Zeit charcckterisirt'
beginnen wir mit einem Werk strengster Gelehrsamkeit: Des Minnesangs
FMling herausgegeben von Carl Lachmann und Moritz Haupt
(>LeipM, Hirzel). Es sind die Lieder aus der ersten Periode des Minne-


Handwerker sind etwas nach der Schablone gearbeitet. Ludwig entlehnt fast
regelmäßig von den Eigenthümlichkeiten des Handwerks die Physiognomie und
Haltung der Person. Das macht im Anfang Spaß, aber zuletzt wird es er¬
müdend, abgesehn davon, daß es gegen die Wirklichkeit verstößt.

Wenn die Verwandtschaft mit Jeremias Gotthelf in der Natur der bei¬
den Männer liegt, so ist das Verhältniß zu Auerbach mehr äußerlich. Auer-
bachs Schriften haben auf Ludwig sehr bedeutend eingewirkt und nicht immer
zu seinem Bortheil. Namentlich hat er sich von ihm die Maxime des tabula,
clooöl angeeignet d. h. wenn er einen interessanten Zug erzählt hat, so macht
er den Leser auf die allgemeine Regel aufmerksam, die darin liegt und sucht
dieser Regel die möglichst bedeutende Form zu geben. Unsere Dichter sollten
ihrem Publicum mehr zutraun. Wenn das Bild, das sie geben, wirklich
bedeuteno und naturtreu ist, so wird der Leser schon dahinter kommen was sie
eigentlich meinen. Bei Auerbach ist diese Methode natürlich, denn er sieht
die Regel vor dem einzelnen Fall, oder wenn das nicht, er faßt den empirisch
aufgenommenen einzelnen Fall sogleich in der Form der Regel, und so schöne
Farben er zu finden weiß, die Reflexion ist ihm doch die Hauptsache. Bei
Ludwig dagegen ist die Reflexion künstlich gemacht und nebenbei ist das
Apercu nicht seine Stärke; sein Ausdruck, in der Erzählung so kräftig und
bezeichnend, wird unbehilflich, sobald er seine Gedanken zusammendrängen will-
Er ist Dichter genug, um mit Ruhe das Geschäft deö Commentators seinen
Kritikern überlassen zu können.

Der Dichter schafft nicht, wann und wie er will. Möchte die Gunst des
Himmels, die Ludwig vielleicht mehr als irgend einen andern deutschen Dichter be¬
fähigt hat, starke Leidenschaften, düstere und heitere Stimmungen mit hin¬
reißender Kraft zu versinnlichen, ihm das Glück verleihn, ein harmonisches
Gebilde zu schaffen, das, gleichviel ob komisch oder tragisch, den Frieden und
die Gesundheit unter den Menschen vermehrt. Sein Name wird dann unter
I. S. den besten unserer Literatur genannt werden.




Kleine ästhetische Streisziige.
'2.

Indem wir eine Reihe von Commentaren über frühere Dichtungen an-
Mgen, eine Gattung der Literatur, die so recht unsere Zeit charcckterisirt'
beginnen wir mit einem Werk strengster Gelehrsamkeit: Des Minnesangs
FMling herausgegeben von Carl Lachmann und Moritz Haupt
(>LeipM, Hirzel). Es sind die Lieder aus der ersten Periode des Minne-


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[0420] Handwerker sind etwas nach der Schablone gearbeitet. Ludwig entlehnt fast regelmäßig von den Eigenthümlichkeiten des Handwerks die Physiognomie und Haltung der Person. Das macht im Anfang Spaß, aber zuletzt wird es er¬ müdend, abgesehn davon, daß es gegen die Wirklichkeit verstößt. Wenn die Verwandtschaft mit Jeremias Gotthelf in der Natur der bei¬ den Männer liegt, so ist das Verhältniß zu Auerbach mehr äußerlich. Auer- bachs Schriften haben auf Ludwig sehr bedeutend eingewirkt und nicht immer zu seinem Bortheil. Namentlich hat er sich von ihm die Maxime des tabula, clooöl angeeignet d. h. wenn er einen interessanten Zug erzählt hat, so macht er den Leser auf die allgemeine Regel aufmerksam, die darin liegt und sucht dieser Regel die möglichst bedeutende Form zu geben. Unsere Dichter sollten ihrem Publicum mehr zutraun. Wenn das Bild, das sie geben, wirklich bedeuteno und naturtreu ist, so wird der Leser schon dahinter kommen was sie eigentlich meinen. Bei Auerbach ist diese Methode natürlich, denn er sieht die Regel vor dem einzelnen Fall, oder wenn das nicht, er faßt den empirisch aufgenommenen einzelnen Fall sogleich in der Form der Regel, und so schöne Farben er zu finden weiß, die Reflexion ist ihm doch die Hauptsache. Bei Ludwig dagegen ist die Reflexion künstlich gemacht und nebenbei ist das Apercu nicht seine Stärke; sein Ausdruck, in der Erzählung so kräftig und bezeichnend, wird unbehilflich, sobald er seine Gedanken zusammendrängen will- Er ist Dichter genug, um mit Ruhe das Geschäft deö Commentators seinen Kritikern überlassen zu können. Der Dichter schafft nicht, wann und wie er will. Möchte die Gunst des Himmels, die Ludwig vielleicht mehr als irgend einen andern deutschen Dichter be¬ fähigt hat, starke Leidenschaften, düstere und heitere Stimmungen mit hin¬ reißender Kraft zu versinnlichen, ihm das Glück verleihn, ein harmonisches Gebilde zu schaffen, das, gleichviel ob komisch oder tragisch, den Frieden und die Gesundheit unter den Menschen vermehrt. Sein Name wird dann unter I. S. den besten unserer Literatur genannt werden. Kleine ästhetische Streisziige. '2. Indem wir eine Reihe von Commentaren über frühere Dichtungen an- Mgen, eine Gattung der Literatur, die so recht unsere Zeit charcckterisirt' beginnen wir mit einem Werk strengster Gelehrsamkeit: Des Minnesangs FMling herausgegeben von Carl Lachmann und Moritz Haupt (>LeipM, Hirzel). Es sind die Lieder aus der ersten Periode des Minne-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/420>, abgerufen am 30.04.2024.