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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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daran gewöhnen, ohne Abgötterei, aber mit warmer Verehrung zu der Zeit
zurückzublicken, auf welcher doch immer unsere heutige Bildung beruht.


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HM f<MÄMI8 1108?
F. Schneider.

Wir haben diese Schrift mit einer gewissen Ueberraschung und vielem Interesse
gelesen, erstens weil wir nach dem Verleger eine mehr oder minder verstekte russische
Tendenz erwarteten. Man errinnert sich, daß während des orientalischen Krieges
eine Reihe von Broschüren erschien, welche im Interesse des europäischen Gleich¬
gewichts die Erhaltung des ungeschwächten Machtbcstandes Rußlands empfahlen
und Deutschland zur freundlichen. Neutralität ernährten, weil in Petersburg der
Schwerpunkt des antirevolutionüren Systems liege; mehre dieser Pamphlete gingen
aus obiger Officin hervor und wir waren auf ein gleiches gefaßt, wir haben uns
angenehm enttäuscht gefunden, und den Ausführungen des unbekannten Herrn Ver¬
fassers zum großen Theil unsern Beifall nicht versagen können. Die Schrift ist das
entschiedenste Plaidoyer gegen russische oder französische Allianz und für die englisch-
östreichische, und schließt mit einem bedeutsamen Hinblicks auf die bevorstehende
Familienverbindung des preußischen und englischen Königshauses. Wir wollen ver¬
suchen eine kurze Analyse der vorgetragenen Ansichten zu geben und zu begründen,
bis wie weit wir mit dem Verfasser gehen können. Derselbe sucht in einem ein¬
leitenden Capitel "die Situation" die dermalige Stellung der europäischen Staaten
zueinander zu zeichnen und findet, daß die frühere Spannung zwischen Frankreich
und Nußland sich in den Explosionen von Scbastvpol vollständig entladen, daß diese
beiden großen Staaten sich nähern und dagegen die Allianz der Westmächte ihren
hauptsächlichen Kitt in der beiderseitigen Feindseligkeit gegen Nußland verloren.
Man wird Hiergegen wenig einwenden können. Selbst wenn man als gewiß annehmen
darf, daß beide Theile von der Stuttgarter Zusammenkunft wenig befriedigt waren,
und Weimar in Paris sehr üble Laune verursacht hat, so bleibt eine Annäherung
zwischen Frankreich und Rußland unleugbar, es ist auch nicht wol zu bestreikn,
daß die schönsten Tage der westmächtlichen Allianz vorüber sind und das Cabinet
von Se. James im Gegenscch zu dem der Tuilerien noch stets eine Gereiztheit
gegen Rußland zeigt. Wir glauben zwar, daß Louis Napoleon keineswegs aus einen
Bruch mit England ausgeht, sondern vielmehr überzeugt ist, daß derselbe sein
Untergang sein würde, aber wir möchten vor allem deswegen den ungetrübten Be¬
stand der Allianz mit England für problematisch halten, weil sie aus den zwei
Augen des Kaisers steht, von einer Verbündung der beiden Völker ist keine Rede,
die Antipathien und streitenden Interessen treten in höflichem Formen auf, aber be¬
stehen ungeschwächt. Auch darin wird man dem Verfasser Recht geben müssen, daß
eine geheime Furcht vor Frankreichs Absichten, namentlich in Italien, Oestreich


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daran gewöhnen, ohne Abgötterei, aber mit warmer Verehrung zu der Zeit
zurückzublicken, auf welcher doch immer unsere heutige Bildung beruht.


I. S.


HM f<MÄMI8 1108?
F. Schneider.

Wir haben diese Schrift mit einer gewissen Ueberraschung und vielem Interesse
gelesen, erstens weil wir nach dem Verleger eine mehr oder minder verstekte russische
Tendenz erwarteten. Man errinnert sich, daß während des orientalischen Krieges
eine Reihe von Broschüren erschien, welche im Interesse des europäischen Gleich¬
gewichts die Erhaltung des ungeschwächten Machtbcstandes Rußlands empfahlen
und Deutschland zur freundlichen. Neutralität ernährten, weil in Petersburg der
Schwerpunkt des antirevolutionüren Systems liege; mehre dieser Pamphlete gingen
aus obiger Officin hervor und wir waren auf ein gleiches gefaßt, wir haben uns
angenehm enttäuscht gefunden, und den Ausführungen des unbekannten Herrn Ver¬
fassers zum großen Theil unsern Beifall nicht versagen können. Die Schrift ist das
entschiedenste Plaidoyer gegen russische oder französische Allianz und für die englisch-
östreichische, und schließt mit einem bedeutsamen Hinblicks auf die bevorstehende
Familienverbindung des preußischen und englischen Königshauses. Wir wollen ver¬
suchen eine kurze Analyse der vorgetragenen Ansichten zu geben und zu begründen,
bis wie weit wir mit dem Verfasser gehen können. Derselbe sucht in einem ein¬
leitenden Capitel „die Situation" die dermalige Stellung der europäischen Staaten
zueinander zu zeichnen und findet, daß die frühere Spannung zwischen Frankreich
und Nußland sich in den Explosionen von Scbastvpol vollständig entladen, daß diese
beiden großen Staaten sich nähern und dagegen die Allianz der Westmächte ihren
hauptsächlichen Kitt in der beiderseitigen Feindseligkeit gegen Nußland verloren.
Man wird Hiergegen wenig einwenden können. Selbst wenn man als gewiß annehmen
darf, daß beide Theile von der Stuttgarter Zusammenkunft wenig befriedigt waren,
und Weimar in Paris sehr üble Laune verursacht hat, so bleibt eine Annäherung
zwischen Frankreich und Rußland unleugbar, es ist auch nicht wol zu bestreikn,
daß die schönsten Tage der westmächtlichen Allianz vorüber sind und das Cabinet
von Se. James im Gegenscch zu dem der Tuilerien noch stets eine Gereiztheit
gegen Rußland zeigt. Wir glauben zwar, daß Louis Napoleon keineswegs aus einen
Bruch mit England ausgeht, sondern vielmehr überzeugt ist, daß derselbe sein
Untergang sein würde, aber wir möchten vor allem deswegen den ungetrübten Be¬
stand der Allianz mit England für problematisch halten, weil sie aus den zwei
Augen des Kaisers steht, von einer Verbündung der beiden Völker ist keine Rede,
die Antipathien und streitenden Interessen treten in höflichem Formen auf, aber be¬
stehen ungeschwächt. Auch darin wird man dem Verfasser Recht geben müssen, daß
eine geheime Furcht vor Frankreichs Absichten, namentlich in Italien, Oestreich


Grenzboten I. 18S3. 15
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/121>, abgerufen am 29.04.2024.