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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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hat nicht die Gabe des echten Dichters, in der Charakteristik das Zufällige
vom Nothwendigen zu sondern, seine Charaktere sind keine Typen, deren innere
Wahrheit und Nothwendigkeit jedem Unbefangenen einleuchtet, sondern Genre¬
bilder, denen das Einzige fehlt, was dieser Gattung Berechtigung verleiht, der
Humor. Vollständige Trockenheit des Herzens, eine trostlose Altklugheit, die
über alle Illusionen und allen Glauben hinaus ist, und das Ganze nicht sel¬
ten in einer weinerlichen Form vorgetragen: das ist der Inhalt, den seine
Stücke uns bieten. Die bloße Copie der sogenannten Natur d. h. der zu¬
fälligen Erscheinung reicht niemals aus, wo es gilt den Menschen in seiner
Kraft, gleichviel ob im Guten oder im Bösen darzustellen; denn die Beob¬
achtung gibt nur Bruchstücke; den innern Zusammenhang, das Princip und
die leitende Kraft muß die Kunst des Dichters hinzufügen. Wir haben uns
über das Mißverständniß in Bezug aus den Begriff des Realismus, in wel¬
ches die meisten unserer jüngern Dichter verfallen, bereits mehrfach ausge¬
sprochen, wir freuen uns, dieselben Ansichten von dem geistvollen Kritiker der
Revue des deux Mondes, Emile MoMgut, vertreten zu sehn, der sich jetzt auf
eine höchst erfolgreiche Weise bemüht, den Posten des verstorbenen Planche
würdig auszufüllen.




Literatur- und Kunstgeschichte.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts, als das Interesse an literarhistorischen
Studien seinen Anfang nahm, beschränkte man sich fast ausschließlich darauf,
die höchsten Gipfel der Poesie miteinander zu verbinden und nach ihnen die
Perspective auf den allgemeinen Entwickelungsgang derselben zu bestimmen.
Bei den großen Fortschritten dieser Wissenschaft bemüht man sich jetzt im
Gegentheil, die minder bekannten Gebiete der Literatur zu durchforschen, und
mit mehr oder minder Bewußtsein darauf aufmerksam zu machen, wie viel
die eigentlich genialen schöpferischen Naturen der fertigen Bildung und den
sittlichen Anschauungen' ihrer Zeit verdanken. Durch dies gründlichere Ein¬
gehn auf den stillen Bildungsproceß, auf das unmerkliche Werden und Wach¬
sen des Geistes wird der historische Sinn ungemein gefördert, sobald man
nur über diesen mikroskopischen Untersuchungen den großen Blick für das All-'
gemeine nicht verliert, sobald man sich nur daran erinnert, daß durch die
Aufzählung der chemischen Elemente, aus denen eine schöpferische That her¬
vorging, diese That selbst lange noch nicht erklärt ist. So überzeugen uns
z. B., um vorzugreifen, grade die gründlichern Untersuchungen über die Bil¬
dungselemente der shakespeareschen Zeit immer mehr davon, wie hoch Shake-


hat nicht die Gabe des echten Dichters, in der Charakteristik das Zufällige
vom Nothwendigen zu sondern, seine Charaktere sind keine Typen, deren innere
Wahrheit und Nothwendigkeit jedem Unbefangenen einleuchtet, sondern Genre¬
bilder, denen das Einzige fehlt, was dieser Gattung Berechtigung verleiht, der
Humor. Vollständige Trockenheit des Herzens, eine trostlose Altklugheit, die
über alle Illusionen und allen Glauben hinaus ist, und das Ganze nicht sel¬
ten in einer weinerlichen Form vorgetragen: das ist der Inhalt, den seine
Stücke uns bieten. Die bloße Copie der sogenannten Natur d. h. der zu¬
fälligen Erscheinung reicht niemals aus, wo es gilt den Menschen in seiner
Kraft, gleichviel ob im Guten oder im Bösen darzustellen; denn die Beob¬
achtung gibt nur Bruchstücke; den innern Zusammenhang, das Princip und
die leitende Kraft muß die Kunst des Dichters hinzufügen. Wir haben uns
über das Mißverständniß in Bezug aus den Begriff des Realismus, in wel¬
ches die meisten unserer jüngern Dichter verfallen, bereits mehrfach ausge¬
sprochen, wir freuen uns, dieselben Ansichten von dem geistvollen Kritiker der
Revue des deux Mondes, Emile MoMgut, vertreten zu sehn, der sich jetzt auf
eine höchst erfolgreiche Weise bemüht, den Posten des verstorbenen Planche
würdig auszufüllen.




Literatur- und Kunstgeschichte.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts, als das Interesse an literarhistorischen
Studien seinen Anfang nahm, beschränkte man sich fast ausschließlich darauf,
die höchsten Gipfel der Poesie miteinander zu verbinden und nach ihnen die
Perspective auf den allgemeinen Entwickelungsgang derselben zu bestimmen.
Bei den großen Fortschritten dieser Wissenschaft bemüht man sich jetzt im
Gegentheil, die minder bekannten Gebiete der Literatur zu durchforschen, und
mit mehr oder minder Bewußtsein darauf aufmerksam zu machen, wie viel
die eigentlich genialen schöpferischen Naturen der fertigen Bildung und den
sittlichen Anschauungen' ihrer Zeit verdanken. Durch dies gründlichere Ein¬
gehn auf den stillen Bildungsproceß, auf das unmerkliche Werden und Wach¬
sen des Geistes wird der historische Sinn ungemein gefördert, sobald man
nur über diesen mikroskopischen Untersuchungen den großen Blick für das All-'
gemeine nicht verliert, sobald man sich nur daran erinnert, daß durch die
Aufzählung der chemischen Elemente, aus denen eine schöpferische That her¬
vorging, diese That selbst lange noch nicht erklärt ist. So überzeugen uns
z. B., um vorzugreifen, grade die gründlichern Untersuchungen über die Bil¬
dungselemente der shakespeareschen Zeit immer mehr davon, wie hoch Shake-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/354>, abgerufen am 28.04.2024.