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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Ungelöste Fragen in der Politik.

Wenn im gegenwärtigen Augenblick die politischen Fragen durch die
materiellen Interessen in den Hintergrund gedrängt sind, so scheint es doch
zweckmäßig, durch gelegentliche Erinnerung an die Conflicte, welche vertagt,
aber nicht gelöst sind, vor einer trüglichen Sicherheit zu warnen. Wir greifen
einige von diesen Fragen heraus, die sich durch zufallige Begebenheiten dem
Gedächtniß aufdrängen.

Zunächst erinnern wir an die Bemerkungen des sächsischen Staatsministers
Freiherrn von Reuse über den von mehren deutschen Ständen ausge¬
sprochenen Wunsch, daß der deutsche Bundestag durch Bildung eines deutschen
Parlaments, entweder aus Urwähler, oder aus den einzelnen Kammern, auf
eine organische Weise ergänzt werden möge. Der Wunsch ist bekanntlich nicht
neu, er ist so alt wie der Bundestag selbst, er gab der Bewegung von 1848
die Farbe, und lst in unserer Zeit begreiflicher als je. Denn es scheint in
der That ein starkes Mißverhältnis;, daß mit Ausnahme von Oestreich die
einzelnen deutschen Regierungen verfassungsmäßig durch die Controle ihrer
Stände beschränkt sind, während ihr Gesammtorgan keine derartige Controle
kennt. Je eifersüchtiger die Stände der einzelnen Lande über ihren Rechten
wachen, desto schwieriger wird es dem Bundestag, seine allgemeinen Inter¬
essen gegen das Widerstreben einzelner Fürsten durchzuführen. Da nun in
der politischen Entwickelung die historische Reminiscenz immer sehr viel thut,
so ist es begreiflich, daß das Beispiel der Bereinigten Staaten von Nord¬
amerika und der schweizer Eidgenossenschaft die Vorstellung hervorruft, der
Bundestag, den man gewissermaßen wie den amerikanischen Senat ansieht,
könne einen Congreß neben sich dulden, in welchem die Nation als solche sich
geltend macht.

Allein Herr von Beust hat vollkommen richtig nachgewiesen, warum ein
solcher Vergleich nicht paßt, und wir können ihm um so mehr darin bei¬
pflichten, da wir ähnliche Erörterungen schon mehrfach angestellt haben. Ein¬
mal hat nur dasjenige Parlament einen Sinn, welches einer Executive gegen¬
übersteht, auf die es einwirken, mit der es sich verständigen kann, und eine
solche ist der Bundestag nicht; die ausübende Gewalt liegt vielmehr, sehr


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Ungelöste Fragen in der Politik.

Wenn im gegenwärtigen Augenblick die politischen Fragen durch die
materiellen Interessen in den Hintergrund gedrängt sind, so scheint es doch
zweckmäßig, durch gelegentliche Erinnerung an die Conflicte, welche vertagt,
aber nicht gelöst sind, vor einer trüglichen Sicherheit zu warnen. Wir greifen
einige von diesen Fragen heraus, die sich durch zufallige Begebenheiten dem
Gedächtniß aufdrängen.

Zunächst erinnern wir an die Bemerkungen des sächsischen Staatsministers
Freiherrn von Reuse über den von mehren deutschen Ständen ausge¬
sprochenen Wunsch, daß der deutsche Bundestag durch Bildung eines deutschen
Parlaments, entweder aus Urwähler, oder aus den einzelnen Kammern, auf
eine organische Weise ergänzt werden möge. Der Wunsch ist bekanntlich nicht
neu, er ist so alt wie der Bundestag selbst, er gab der Bewegung von 1848
die Farbe, und lst in unserer Zeit begreiflicher als je. Denn es scheint in
der That ein starkes Mißverhältnis;, daß mit Ausnahme von Oestreich die
einzelnen deutschen Regierungen verfassungsmäßig durch die Controle ihrer
Stände beschränkt sind, während ihr Gesammtorgan keine derartige Controle
kennt. Je eifersüchtiger die Stände der einzelnen Lande über ihren Rechten
wachen, desto schwieriger wird es dem Bundestag, seine allgemeinen Inter¬
essen gegen das Widerstreben einzelner Fürsten durchzuführen. Da nun in
der politischen Entwickelung die historische Reminiscenz immer sehr viel thut,
so ist es begreiflich, daß das Beispiel der Bereinigten Staaten von Nord¬
amerika und der schweizer Eidgenossenschaft die Vorstellung hervorruft, der
Bundestag, den man gewissermaßen wie den amerikanischen Senat ansieht,
könne einen Congreß neben sich dulden, in welchem die Nation als solche sich
geltend macht.

Allein Herr von Beust hat vollkommen richtig nachgewiesen, warum ein
solcher Vergleich nicht paßt, und wir können ihm um so mehr darin bei¬
pflichten, da wir ähnliche Erörterungen schon mehrfach angestellt haben. Ein¬
mal hat nur dasjenige Parlament einen Sinn, welches einer Executive gegen¬
übersteht, auf die es einwirken, mit der es sich verständigen kann, und eine
solche ist der Bundestag nicht; die ausübende Gewalt liegt vielmehr, sehr


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[0449] Ungelöste Fragen in der Politik. Wenn im gegenwärtigen Augenblick die politischen Fragen durch die materiellen Interessen in den Hintergrund gedrängt sind, so scheint es doch zweckmäßig, durch gelegentliche Erinnerung an die Conflicte, welche vertagt, aber nicht gelöst sind, vor einer trüglichen Sicherheit zu warnen. Wir greifen einige von diesen Fragen heraus, die sich durch zufallige Begebenheiten dem Gedächtniß aufdrängen. Zunächst erinnern wir an die Bemerkungen des sächsischen Staatsministers Freiherrn von Reuse über den von mehren deutschen Ständen ausge¬ sprochenen Wunsch, daß der deutsche Bundestag durch Bildung eines deutschen Parlaments, entweder aus Urwähler, oder aus den einzelnen Kammern, auf eine organische Weise ergänzt werden möge. Der Wunsch ist bekanntlich nicht neu, er ist so alt wie der Bundestag selbst, er gab der Bewegung von 1848 die Farbe, und lst in unserer Zeit begreiflicher als je. Denn es scheint in der That ein starkes Mißverhältnis;, daß mit Ausnahme von Oestreich die einzelnen deutschen Regierungen verfassungsmäßig durch die Controle ihrer Stände beschränkt sind, während ihr Gesammtorgan keine derartige Controle kennt. Je eifersüchtiger die Stände der einzelnen Lande über ihren Rechten wachen, desto schwieriger wird es dem Bundestag, seine allgemeinen Inter¬ essen gegen das Widerstreben einzelner Fürsten durchzuführen. Da nun in der politischen Entwickelung die historische Reminiscenz immer sehr viel thut, so ist es begreiflich, daß das Beispiel der Bereinigten Staaten von Nord¬ amerika und der schweizer Eidgenossenschaft die Vorstellung hervorruft, der Bundestag, den man gewissermaßen wie den amerikanischen Senat ansieht, könne einen Congreß neben sich dulden, in welchem die Nation als solche sich geltend macht. Allein Herr von Beust hat vollkommen richtig nachgewiesen, warum ein solcher Vergleich nicht paßt, und wir können ihm um so mehr darin bei¬ pflichten, da wir ähnliche Erörterungen schon mehrfach angestellt haben. Ein¬ mal hat nur dasjenige Parlament einen Sinn, welches einer Executive gegen¬ übersteht, auf die es einwirken, mit der es sich verständigen kann, und eine solche ist der Bundestag nicht; die ausübende Gewalt liegt vielmehr, sehr Grmzbvte» I. 13S3. 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/449>, abgerufen am 28.04.2024.